Die Notwendigkeit der Enteisung eines Flugzeugs vor dem Start ist jedenfalls an Flughäfen und in Zeiträumen, in denen mit winterlichen Temperaturen zu rechnen ist, kein außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO. (Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Vor Flugstart im Dezember in Minneapolis steht Enteisung an
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch. Die Zedentin verfügte über eine bestätigte Buchung für einen Flug von Minneapolis über Amsterdam nach Düsseldorf. Der von der Beklagten durchgeführte Flug von Minneapolis nach Amsterdam sollte planmäßig am 5.12.2021 um 21:20 Uhr (Ortszeit) starten und am Tag darauf um 12:15 Uhr (Ortszeit) landen. Wegen einer erforderlichen Enteisung in Minneapolis startete das Flugzeug verspätet und erreichte Amsterdam um 12:51 Uhr (Ortszeit). Die Zedentin versäumte ihren Anschlussflug und erreichte Düsseldorf mit einer Verspätung von 3 Stunden und 51 Minuten.
Verlangt wird Ausgleichszahlung für große Verspätung
Die Klägerin hat die Beklagte außergerichtlich zur Zahlung einer Ausgleichsleistung auf. Die Beklagte berief sich auf außergewöhnliche Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO und lehnte eine Zahlung ab. Die Klägerin hat ursprünglich auf Zahlung von 600 EUR nebst Zinsen geklagt. In ihrer Klageerwiderung hat sich die Beklagte ergänzend auf eine Kürzung um 50 % nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c FluggastrechteVO berufen. Daraufhin erklärten die Parteien den Rechtsstreit in Höhe von 300 EUR für in der Hauptsache erledigt.
AG gibt statt, LG weist ab, Revision erfolgreich
Das AG hat die Beklagte nach Beweisaufnahme zur Zahlung von 600 EUR nebst Zinsen verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung, da die Beklagte sich auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO berufen könne. Die eine Enteisung erforderlich machende Wetterlage am 5.12.2021 gehöre zu den nicht mit der Durchführung des betreffenden Fluges zu vereinbarenden Wetterbedingungen im Sinne von Erwägungsgrund 14 der Verordnung und stelle einen außergewöhnlichen Umstand dar. Mit ihrer (zugelassenen) Revision verfolgt die Klägerin ihren Zahlungsanspruch in Höhe von 300 EUR nebst Zinsen weiter. Insoweit hatte das Rechtsmittel Erfolg.
II. Entscheidung
Enteisung hier kein außer-gewöhnlicher Umstand
Nach Auffassung des BGH hat das LG unzutreffend einen Anspruch der Klägerin auf Ausgleichszahlung aus abgetretenem Recht nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c FluggastrechteVO verneint. Denn entgegen der Auffassung des LG begründe die Notwendigkeit der Enteisung im Streitfall keinen außergewöhnlichen Umstand i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO.
… nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens?
Als außergewöhnliche Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO sind nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH Vorkommnisse anzusehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, sei von Fall zu Fall zu beurteilen (vgl. nur EuGH, Urt. v. 23.3.2021 – C-28/20, NJW-RR 2021, 560 Rn 23 – Airhelp; Urt. v. 7.7.2022 – C-308/21, NJW-RR 2022, 1573 Rn 20 – SATA International – Azores Airlines).
Betroffenheit von vielen Flugzeugen reicht nicht
Entgegen der Auffassung des LG reiche es für die Annahme eines außergewöhnlichen Umstands danach nicht aus, dass ein Problem aufgetreten ist, welches nicht nur ein einzelnes Flugzeug betroffen hat. Zu Recht sei das LG allerdings davon ausgegangen, dass außergewöhnliche Umstände auch im Hinblick auf solche Vorgänge vorliegen können, die grundsätzlich zur normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens gehören, etwa das Betanken des Flugzeugs oder die Verladung von Gepäck, wenn dabei ein Problem auftritt, das auf außergewöhnlichen Umständen beruht, wie etwa auf einem allgemeinen Ausfall des Versorgungssystems oder einem allgemeinen Mangel an Personal, das vom Betreiber des Flughafens verwaltet wird (EuGH, Urt. v. 7.7.2022 – C-308/21, NJW-RR 2022, 1573 – SATA International – Azores Airlines SA; Urt. v. 16.5.2024 – C-405/23, NJW 2024, 1865 = EuZW 2024, 678 – Touristic Aviation Services Ltd). Entgegen der Auffassung des LG reiche es für die Annahme eines außergewöhnlichen Umstands in solchen Fällen jedoch nicht aus, dass eine Vielzahl von Flugzeugen von dem in Rede stehenden Problem betroffen sei. Vielmehr sei zusätzlich erforderlich, dass es sich um ein tatsächlich nicht beherrschbares externes Ereignis handelt. Unter diesen Begriff fallen Ereignisse, die vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf ein Naturereignis oder die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (EuGH, Urt. v. 7.7.2022 – C-308/21, NJW-RR 2022, 1573 – SATA International – Azores Airlines SA; Urt. v. 16.5.2024 – C-405/23, NJW 2024, 1865 = EuZW 2024, 678 – Touristic Aviation Services Ltd).
Enteisung grundsätzlich normale Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrt-unternehmens
Bei Anlegung dieses Maßstabs beruht die Verspätung hier nach Auffassung des BGH nicht auf einem außergewöhnlichen Umstand i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO. Wie die Revision zu Recht geltend mache und auch das LG im Ansatz nicht verkannt habe, gehöre die Enteisung eines Flugzeugs bei winterlichen Temperaturen grundsätzlich zur normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens. Die Enteisung eines Flugzeugs vor dem Start diene der Gewährleistung eines technisch einwandfreien und betriebssicheren Zustands des Flugzeugs (BGHS Wien, Urt. v. 12.10.2015 – 16 C 194/15v-12; Schmid RRa 2011, 241, 244; Führich RRa 2012, 166, 169; Marti, Fluggastrechte gemäß der Verordnung (EG) Nr. 261/2004, 2016, 212). Ein solcher Vorgang sei jedenfalls an Flughäfen und in Zeiträumen, in denen mit winterlichen Temperaturen zu rechnen sei, nicht außergewöhnlich.
Kein Naturereignis
Entgegen der Auffassung des LG stellen Verzögerungen bei der Enteisung nicht schon dann einen außergewöhnlichen Umstand dar, wenn eine Vielzahl von Flugzeugen davon betroffen sei und das Luftfahrtunternehmen keinen Einfluss auf den Enteisungsvorgang habe. Wie das LG zutreffend ausgeführt habe, komme eine Einordnung als externes Ereignis im oben genannten Sinne allerdings auch bei Vorgängen in Betracht, die häufig auftreten (EuGH, Urt. v. 7.7.2022 – C-308/21, NJW-RR 2022, 1573 – SATA International – Azores Airlines SA; Urt. v. 16.5.2024 – C-405/23, NJW 2024, 1865 = EuZW 2024, 678 – Touristic Aviation Services Ltd; BGH, Urt. v. 24.9.2013 – X ZR 160/12, NJW 2014, 861). Als Naturereignis oder als Handlung eines Dritten, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreift, können solche Vorgänge aber nur dann angesehen werden, wenn sie – ungeachtet der Häufigkeit, mit der sie auftreten können – einen Umstand bilden, der außerhalb dessen liegt, was als normale Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens anzusehen sei. Winterliche Flugbedingungen seien danach jedenfalls an Flughäfen und in Zeiträumen, in denen mit solchen Bedingungen typischerweise zu rechnen sei, nicht als Naturereignis anzusehen.
Hier nicht „außergewöhnlich“
Im Streitfall habe das LG festgestellt, dass ein Flugzeug, das im Dezember von Minneapolis aus startet, nicht immer enteist werden müsse. Die Notwendigkeit einer Enteisung hänge vielmehr vom jeweiligen Wetter und von der Entscheidung des Piloten ab. Daraus ergebe sich, dass die Notwendigkeit einer Enteisung unter den für den Streitfall maßgeblichen Umständen einen Umstand darstelle, mit dem typischerweise zu rechnen gewesen sei. Folglich liege kein außergewöhnlicher Umstand i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO vor.
III. Bedeutung für die Praxis
BGH entscheidet durch
1. Der BGH hat abschließend entscheiden, weil die Sache zur Endentscheidung reif war (§ 563 Abs. 3 ZPO). Aus den vom LG getroffenen Feststellungen ergibt sich nämlich, dass die im Streitfall eingetretene große Ankunftsverspätung nicht auf einem außergewöhnlichen Umstand i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO beruhte. Sonstige Ereignisse, die als außergewöhnlicher Umstand zu bewerten sein könnten, seien dem Vortrag der Beklagten nicht zu entnehmen.
Kein Vorabentscheidungs-verfahren
2. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV bestand nach Auffassung des Senats kein Anlass. Die für die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO entscheidenden Gesichtspunkte seien durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt. Ob die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift im Einzelfall erfüllt seien, unterliege der Beurteilung durch die nationalen Gerichte.
Kostenentscheidung
3. Interessant sind auch die Ausführungen des BGH zur Kostenentscheidung. Die Klägerin erstrebte insoweit, dass der Beklagten die gesamten Kosten des Rechtsstreits auferlegt werden und nicht nur die Hälfte. Dem hat der BGH eine Absage erteilt: Es entspreche in der Regel billigem Ermessen im Sinne von § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO, dem Kläger die Kosten aufzuerlegen, wenn er schon vor Rechtshängigkeit mit der Erhebung naheliegender Einwendungen oder Einreden rechnen musste, etwa – wie hier – der Berufung auf eine Kürzung nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c FluggastrechteVO.