1. Der Betroffene verhält sich nicht widersprüchlich, wenn er auf ein Anhörungsschreiben antwortet, welches an eine Adresse versendet wurde, die nicht Lebensmittelpunkt ist, aber Meldeadresse (Soldatin auf Heimatbesuch).
2. Ein Zustellungsmangle wird nicht dadurch geheilt, dass dem Betroffenen von einem Familienangehörigen lediglich die erste Seite des Bußgeldbescheides per WhatsApp. übersandt wird. (Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Zustellung beim Lebensmittelpunkt, Rückmeldung der Betroffenen
Die Verwaltungsbehörde hat gegen den die Betroffene wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße festgesetzt. Der Bußgeldbescheid wurde der Betroffenen, ausweislich der Zustellungsurkunde am 19.7.2023 an ihre Meldeadresse, pp. zugestellt. Die Mutter der Betroffenen hat dieser am 31.7.2023 lediglich die erste Seite des Bußgeldbescheids per WhatsApp geschickt. Die Betroffene hat sich per E-Mail am unter Angabe des korrekten Aktenzeichens und des korrekten Gesamtbetrages (inkl. Auslagen und Gebühr) bei der Verwaltungsbehörde gemeldet und um Zahlungserleichterung gebeten. Die Verwaltungsbehörde bot am selben Tag verschiedene Möglichkeiten der Ratenzahlung an und wies auf die Rechtskraft zum 3.8.2023 hin. Die Betroffene antwortete ebenfalls noch am 31.7.2023, u.a., dass sie postalisch nicht zu erreichen sei und man ihr daher keine Bestätigung senden solle. Die E-Mail reiche ihr als Nachweis völlig aus.
Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag
Über ihren Verteidiger legte die Betroffene am 7.9.2023 Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Zudem wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist beantragt. Die Verwaltungsbehörde hat den Einspruch verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Der dagegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei in der Sache begründet. Der Bußgeldbescheid sei der Betroffenen nicht ordnungsgemäß zugestellt worden und es sei auch keine Heilung eingetreten.
Keine wirksame Ersatzzustellung
Es ist keine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen des Bußgeldbescheids in den Briefkasten am 19.7.2023 erfolgt. Ausweislich der Postzustellungsurkunde sei der Bußgeldbescheid in den zur Wohnung mit der Anschrift gehörenden Briefkasten eingelegt. Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 51 Abs. OWiG i.V.m. § 3 LVwZG i.V.m. § 180 ZPO sei nur möglich, wenn die Wohnung tatsächlich vom Zustellungsadressaten bewohnt werde. Wohnung i.S.d. Norm seien hierbei die Räume, die der Empfänger tatsächlich bewohne, in den er also seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt hat und wo am ehesten mit einer Zustellung gerechnet werden könne. Die Eigenschaft als Wohnung gehe erst verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustandsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagere (vgl. BGH NJW 1978, 1885). Ob das der Fall sei, lasse sich nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen, wobei der Zweck der Zustellungsvorschriften, dem Empfänger rechtliches Gehör zu gewähren, zu berücksichtigen ist. Geeignete Gesichtspunkte für diese Prüfung können die Dauer der Abwesenheit, der Kontakt zu den in der Wohnung verbliebenen Personen sowie die Absicht und die Möglichkeit der Rückkehr sein (BGH, NJW 1978, 1858).
Lebensmittelpunkt aufgegeben
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien habe die Betroffene, ausweislich der Kommandantur vom pp., die jedenfalls bis zum 31.7.2023 andauerte und ihre Wohnsitznahme in der Nähe von Ulm erforderlich machte, ihren Lebensmittelpunkt in S. zu diesem Zeitpunkt aufgegeben. Sie haben die alte Adresse in Abständen von mehreren Monaten lediglich für Besuch der Eltern aufrecht erhalten. Ihr tatsächlicher Lebensmittelpunkt habe sich nach Ulm verlagert gehabt. Die Tatsache, dass die Betroffene online auf das Anhörungsschreiben, welches ebenfalls an die Adresse in S. versendet worden sei, geantwortet habe, führe nicht zu einem widersprüchlichen Verhalten der Betroffenen. Die Anhörung datiere vom 23.5.2023. Nach eigenen Angaben sei die Betroffene Anfang Juni 2023 in S. zu Besuch gewesen, was die Mutter der Betroffenen bestätigt habe. Daher kann die Betroffene die Anhörung – unwiderleglich – zur Kenntnis genommen haben. Dadurch sei nicht in vorwerfbarer Weise der Rechtsschein einer Wohnungsnahme in S. begründet worden.
Teilweise Übersendung per WhatsApp
Es sei auch keine Heilung des Zustellungsmangels durch die teilweise Übersendung des Bußgeldbescheides per WhatsApp an die Betroffene erfolgt. Dies begründe keinen tatsächlichen Zugang. Die Betroffene habe spätestens am 31.7.2023 Kenntnis vorn Bußgeldbescheid, weil ihre Mutter die erste Seite des Bescheids abfotografierte und der Betroffenen per WhatsApp übermittelt habe. Die Betroffene habe am selben Tag in Form von E-Mails Kontakt zur Bußgeldbehörde aufgenommen. Der Bußgeldbescheid gelte gemäß § 51 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 9 LVwZG als am14.8.2023 zugestellt, wenn er der Betroffenen am 31.7.2023 tatsächlich zugegangen gewesen wäre. Voraussetzung dafür sei, dass die Behörde die Zustellung vornehmen wollte (BVerwGE 16, 165; VGH Baden-Württemberg VBIBW 1988, 143; BGH NJW 2003, 1192) und der Zustellungsadressat das zuzustellende Dokument tatsächlich erhalten habe, so dass er vom Inhalt Kenntnis nehmen konnte (BGH NJW 2007, 1605). Dies werde dahingehend konkretisiert, dass der Adressat das Schriftstück so in die Hand bekommen haben müsse, wie es ihm bei ordnungsmäßiger Zustellung ausgehändigt worden wäre (BGH NZG 2020, 70 ‚BFH NJW 2014, 2524; Engelhardt/App/Schlatmann/Schlatmann, 12. Aufl. 2021, VwZG § 8 Rn 2). Die bloße (mündliche) Unterrichtung über den Inhalt des Schriftstücks sei nicht ausreichend (BGH NJW 1992, 2099; Beschl. v. 12.3.2020 I ZB 64/19), auch nicht die durch Akteneinsicht erlangte Kenntnis (BayObLG NJW 2004, 3722). Nicht erforderlich sei der Zugang des zuzustellenden Originals. Die Übermittlung einer (elektronischen) Kopie, z.B. Scan, Fotokopie, Telefax, genügt (BGH, a.a.O.). Die Übermittlung der ersten Seite des Bußgeldbescheides per WhatsApp genüge insoweit aber nicht den Voraussetzungen einer tatsächlichen Zustellung im Sinne der Norm. Dafür wäre es erforderlich gewesen, dass die Betroffene vom gesamten Bescheid sichere Kenntnis nehmen konnte. Vorliegend habe die Mutter der Betroffenen im Rahmen ihrer eidesstattlichen Versicherung ausgeführt, dass sie dieser nur die erste Seite des Bescheids am 31.7.2023 übersendet habe.
III. Bedeutung für die Praxis
Zutreffend
Die Entscheidung ist zutreffend. Sie entspricht der Auffassung in der Rechtsprechung zur Heilung von Zustellungsfehlern durch nur teilweise Übermittlung eines Bußgeldbescheides per WhatsApp. So hate z.B. dem AG Trier (Beschl. v. 27.11.2020 – 35a OWi 52/20) die Übermittlung nur des oberen Teils des Bußgeldbescheides nicht zur Erfüllung der Voraussetzungen einer tatsächlichen Zustellung im Sinne des § 189 ZPO genügt. Das BayObLG (Beschl. v. 17.11.2020 – 201 ObOWi 1385/20, NStZ-RR 2021, 117) verlangt zumindest die Übermittlung einer Fotokopie bzw. eines Scans. Dem OLLG Celle (Beschl. v. 10.3.2021 – 2 Ss (OWi) 348/20, NZV 2021, 483) hat allerdings die Weiterleitung eines Fotos über das Mobiltelefon gereicht). Wegen weiterer Einzelh. zu den Zustellungsfragen wird verwiesen auf Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, verwiesen.