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Aktuelle Rechtsprechung des BGH zur Quotenbildung im Zivilverkehrsrecht

Der VI. Zivilsenat des BGH hat im Bereich des Verkehrszivilrechts in den Jahren 2022 und 2023 eine Reihe von für die Praxis relevante Entscheidungen getroffen, die sich mit der Bildung der Haftungsquote beschäftigen und in diesem Beitrag im Einzelnen dargelegt werden.

1. Einfahren und Fahrstreifenwechsel

Eine in der Praxis häufig vorkommende Konstellation hatte der BGH mit seinem Urt. v. 8.3.2022 (VI ZR 1308/20 = VRR 10/2022, 10) zu beurteilen. Hier war ein Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr mit seinem Fahrzeug während eines Fahrstreifenwechsels vom linken auf den rechten Fahrstreifen mit einem anderen Fahrzeugführer kollidiert, der zu derselben Zeit vom ruhenden in den fließenden Verkehr eingefahren war. Anschaulich legt der BGH dar, dass gegen den letztgenannten Fahrzeugführer, der in den fließenden Verkehr eingefahren ist, bereits der Beweis des ersten Anscheins wegen eines schuldhaften Verstoßes gegen § 10 StVO führt, wonach bei diesem Fahrmanöver die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer insgesamt auszuschließen ist. Dies führt (erst einmal) zur alleinigen Haftung desjenigen, der in den fließenden Verkehr einfuhr.

Praxistipp: Dieser Anscheinsbeweis greift ein, bis der einfahrende Verkehrsteilnehmer sich so in den fließenden Verkehr eingegliedert hat, dass er dort kein Hindernis mehr bildet und i.d.R. die dort übliche Geschwindigkeit erreicht hat. Dies wird nach der Rechtsprechung des OLG Hamburg nach einer Strecke von 31 Metern vermutet.

Der BGH hat sodann erörtert, ob zu Lasten des Teilnehmers im fließenden Verkehr die Vorschrift des § 7 Abs. 5 StVO eingreifen kann, wonach bei einem Fahrstreifenwechsel die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ebenfalls auszuschließen ist. Allerdings reduziert der BGH den Anwendungsbereich dieser Vorschrift teleologisch und legt den Begrifft des „anderen Verkehrsteilnehmers“ eingeschränkt aus: Erfasst wird nämlich nur der Verkehrsteilnehmer, der sich bereits im fließenden Verkehr befindet, während die Vorschrift sowohl nach Sinn und Zweck als auch im Rahmen einer historischen Auslegung nicht dem Schutz desjenigen dient, der vom ruhenden in den fließenden Verkehr einfährt. Anderenfalls würde das Vorrangrecht des fließenden Verkehrs nicht gewahrt werden und der gesamte Verkehr zum Erliegen kommen, wenn auch bei einem Fahrstreifenwechsel der an sich wartepflichtige Verkehrsteilnehmer im ruhenden Verkehr zu beachten und geschützt werden müsste. Denn aus § 10 StVO ergibt sich ein Vorrang des fließenden Verkehrs gegenüber dem ruhenden Verkehr.

Zu beachten ist allerdings, dass in solchen Konstellationen immer noch zu prüfen ist, ob der Teilnehmer im fließenden Verkehr schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Hiernach ist er auch unter Berücksichtigung seines Vorrangrechtes verpflichtet, bei einem erkennbaren Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers unfallverhütend zu reagieren und eine Kollision so weit wie möglich zu vermeiden. Dies hatte das Berufungsgericht in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall weiter aufzuklären, so dass bei derartigen Fällen immer in der Praxis konkret darauf geachtet werden muss, ausreichend konkreten Tatsachenvortrag im Hinblick auf einen solch möglichen Verstoß zu erbringen, wenn diese Seite des Unfallgeschehens vertreten wird. Dazu gehört auch die Angabe, weil ein konkretes Anzeichen für den sich vorfahrtsberechtigten Teilnehmer im fließenden Verkehr vorgelegen hat, auf das einfahrende Fahrzeug zu reagieren.

Praxistipp: Ein Verstoß des Unfallgegners gegen § 1 Abs. 2 StVO wegen einer zu späten Reaktion wird sich im Prozess nur schwer und i.d.R. nur mit einem Gutachten nachweisen lassen. Und selbst wenn dieser Nachweis gelingt, wird sich im Regelfall keine größere Mithaftung als 30 % zu erzielen sein – denn die überwiegende Haftung bleibt bei demjenigen, der unachtsam vom ruhenden in den fließenden Verkehr unter Verstoß gegen § 10 StVO eingefahren ist.

2. Haftung bei der Einfahrt in eine Engstelle

Ebenfalls unter dem gleichen Datum hatte der BGH über eine Konstellation im Bereich einer Engstelle zu entscheiden, die auch häufiger vorkommt (BGH, Urt. v. 8.3.2022 – VI ZR 47/21, VRR 6/2022, 11). Dieser Fall war dadurch geprägt, dass zwei Verkehrsteilnehmer auf eine beiderseitige Fahrbahnverengung zugefahren sind und der BGH hatte hier darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein Vorrang eines der Fahrzeugführer angenommen werden kann. Seine Vorgabe ist klar: Bei einer beiderseitigen Fahrbahnverengung gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme nach § 1 Abs. 2 StVO, während ein Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen nicht angenommen werden kann. Der Fall war dabei durch eine Verengung geprägt, die von beiden Seiten gleichzeitig begonnen hat, sodass es keinen durchgehenden Fahrstreifen mehr gegeben hat.

Denn bei einer beiderseitigen Fahrbahnverengung gilt alleine das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme nach § 1 Abs. 2 StVO – insbesondere dann, wenn beide Fahrzeuge gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit in die Engstelle gelangen. Anders als bei einer Engstelle, bei der ein klarer, weiterführender Fahrstreifen besteht, dessen Fahrzeugführer dann ein Vorrangrecht einzuräumen ist, bevor das Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO einsetzt, gibt es ein solches Vorrangrecht bei einer beiderseitigen Engstelle gerade nicht, wie auch das Gefahrenzeichen 120 anschaulich klarstellt. Insbesondere gibt es keinen durchgängigen Vorrang des rechts fahrenden Fahrzeuges. Hierin liegt ein systematischer Unterschied zu der Konstellation des Zeichens 121 in der Anlage 1 zu § 40 StVO, bei welcher gerade die einseitig verengte Fahrbahn erfasst wird. Klargestellt hat der Bundesgerichtshof dabei auch, dass das Durchfahren der Engstelle nicht mit einem Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO verbunden ist.

Praxistipp: Bei der einseitig verengten Fahrbahn hat dagegen derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang vor demjenigen, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann (OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.7.2014 – I 1 U 152/13). Dieses sog. Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO gilt aber nur dann, wenn der Abstand der auf den mehreren Fahrstreifen ankommenden Fahrzeuge kein Einordnen auf den durchgehenden Fahrstreifen mit ausreichendem Abstand (§ 4 StVO) mehr zulässt (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 8.12.2003 – 16 U 173/03) – hier kann also jeweils argumentiert werden.

3. Quote bei Kollision auf öffentlichen Parkplätzen

Im Oktober 2022 hatte der BGH sich mit einer ebenfalls sehr bedeutsamen Unfallkonstellation zu befassen, die in der Praxis häufig vorkommt (BGH, Urt. v. 22.11.2022 – VI ZR 344/21, VRR 4/2023, 14). Hier waren zwei Fahrzeugführer mit ihrem Pkw auf einem öffentlichen Parkplatz ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung zusammengestoßen und es stellte sich die Streitfrage, ob und in welchem Umfang die Regel „rechts vor links“ Anwendung findet. Der BGH betont, dass diese Vorfahrtsregel zu § 8 Abs. 1 S. 1 StVO (rechts vor links) bei einer Kollision auf einem solchen öffentlichen Parkplatz ohne eine ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der sogenannten Pflichtenkonkretisierung im Zusammenspiel mit § 1 Abs. 2 StVO Anwendung findet. Eine Ausnahme wird nur dann zugelassen, wenn den vor Ort vorhandenen Spuren ein eindeutiger Straßencharakter zukommt, was immer im Einzelfall zu prüfen ist.

Dabei betont der BGH noch einmal, dass bei einem öffentlich zugänglichen Parkplatz die Regeln der StVO im Zusammenhang mit dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme nach § 1 Abs. 2 StVO zu beachten sind, hebt aber zugleich hervor, dass die Vorschrift des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO in diesem Zusammenhang grundsätzlich keine Bedeutung hat. Dies ändert sich nur dann, wenn eine mit dem fließenden Verkehr und den dortigen Straßenzügen vergleichbare Konstellation vorhanden ist und nach den im Parkplatzbereich vorhandenen Fahrspuren in einem Ausnahmefall ein eindeutiger Straßencharakter zukommt. Die Bejahung eines solchen Straßencharakters kommt auf Parkplätzen nach dieser Vorgabe nur ausnahmsweise in Betracht, wenn sich durch die bauliche Gestaltung der Fahrspuren oder sonstiger örtlicher Gegebenheiten bei den Verkehrsteilnehmern unmissverständlich ergibt, dass die Fahrbahn nicht der Aufteilung und dem unmittelbaren Zufahren auf Parkflächen, sondern in erster Linie der Zu und Abfahrt und damit dem fließenden Verkehr dienen.

Für die Praxis ergibt sich damit ein erheblicher Aufklärungsbedarf bei der Bearbeitung dieser Mandate: Insbesondere ist durch Lichtbilder und eine Auswertung der entsprechenden Fahrspuren und der Unfallörtlichkeit in Abgrenzung zu den üblichen Parkplätzen zu beurteilen, ob hier wirklich der Schwerpunkt in der Zu und Abfahrt liegt. Häufig ereignen sich derartige Unfälle allerdings in dem Bereich der bloßen Zufahrt zu den Stellplatzbereichen, die alleine dem Rangieren der Fahrzeuge für das Ein und Ausfahren aus einem Parkplatz dienen, nicht jedoch dem System der Zu und Abfahrt mit einem eindeutigen eigenen Straßencharakter. Da die Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge dann gleich hoch anzusetzen sind, führt dies im Regelfall zu einer Haftungsverteilung mit jeweils 50 %.

Praxistipp: Allerdings kann, wie im Fall des BGH, auch die Betriebsgefahr eines Fahrzeugführers deutlich höher anzusetzen sein, wenn er die im Parkplatzbereich nach dem Rücksichtnahmegebot geltende Schrittgeschwindigkeit deutlich überschritten hat – dies kann also wiederum zu einer überwiegenden Haftungsquote von 70 % führen.

4. Haftungsquote bei der Kollision mit einem Fußgänger

Kollisionen zwischen Kraftfahrzeugen und einem die Fahrbahn querenden Fußgänger kommen in der Praxis leider häufiger vor. Dabei wird in der Regel genau zu prüfen sein, ob und in welchem Umfang ein Fahrzeugführer auf einen Fußgänger zu reagieren hat, wenn dieser die Fahrbahn betritt – insbesondere, wenn das Betreten auf der Gegenfahrbahn und erst einmal weit weg von dem eigenen Kfz erfolgte und genau mit einer solchen Konstellation hatte sich der BGH im April 2023 zu befassen (BGH, Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21, zfs 2023, 490).

In der Konstellation des BGH bestand die Besonderheit, dass der Fahrzeugführer auf einmal mit einem Fußgänger konfrontiert worden ist, der offenkundig die Fahrbahn überqueren wollte, allerdings erst von der aus Sicht des Fahrzeugführers gedachten Gegenfahrbahn in den Straßenbereich eingetreten ist. Hier kommt es immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an, ob ein sogenannter Vertrauensschutz zugunsten des Kraftfahrzeugführers eingreift oder dieser noch zeitnah mit einer Gefahrenabwehrbremsung reagieren muss. Anders als das Berufungsgericht betont der BGH, dass ein Kraftfahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen darf, dass der Fußgänger in der Mitte der Fahrbahn stehen bleiben und ihn vorbeilassen wird, wenn der von links die Fahrbahn überquerende Fußgänger bereits einmal die Fahrbahn betreten hat. Hier kommt es also immer auf die weiteren Umstände des Einzelfalls an, insbesondere ob einem solchen Vertrauen die Grundlage entzogen ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn nach Würdigung aller Umstände ein berechtigter Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.

In dem vom BGH entschiedenen Fall war kein Vertrauensschutz zuzubilligen, da der Fußgänger sich nicht mit normaler Geschwindigkeit bewegt hat, sondern die Fahrbahn rennend zu überqueren versucht hat. Hier besteht in der Tat die besondere Gefahr, dass der Fußgänger in jedem Fall versuchen wird, vor dem herannahenden Kraftfahrzeug noch schnell über die Fahrbahn zu eilen und/oder dieses gegebenenfalls gar nicht rechtzeitig wahrgenommen hat.

Bei der Bildung der Haftungsquote ist sodann zu beachten, dass bei diesen Konstellationen erst einmal gegen den Fußgänger ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO spricht, wonach er die Fahrbahn nur unter Beachtung des Vorrangs des sich nähernden Kraftfahrzeuges überqueren darf. Wenn dem Fußgänger ein solcher Verstoß allerdings nicht nachgewiesen werden kann, haftet der Kraftfahrzeughalter erst einmal alleine aus der Betriebsgefahr des § 7 StVG bzw. der Fahrer aus dem vermuteten Verschulden nach § 18 StVG. Im Regelfall wird allerdings zu Lasten des Fußgängers in einer solchen Konstellation sehr wohl ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO zu bejahen sein.

Dann obliegt es wiederum dem Fußgänger, dem Fahrzeugführer einen Verstoß gegen die StVO, das heißt zumindest gegen das Rücksichtnahmegebots des § 1 Abs. 2 StVO nachzuweisen. Verbleibende Zweifel gehen dabei zu Lasten des Fußgängers und es ist insbesondere zu prüfen, ob und wann der Kraftfahrzeugführer auf den querenden Fußgänger reagieren musste. Hier wirkt sich die Entscheidung des BGH aber erst einmal zugunsten des Fußgängers aus, denn es gibt keinen generellen Vertrauensgrundsatz für Kraftfahrzeugführer, dass ein Fußgänger rechtzeitig das Fahrzeug erkennt und auf dieses entsprechend reagiert.

Praxistipp: Wie immer gilt aber, dass eine genaue Prüfung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist – handelt es sich beispielsweise um einen erwachsenen Fußgänger, der mit einem stetigen Blickkontakt zum Fahrzeugführer nur langsam auf die Fahrbahn tritt und besteht im Bereich der Mittellinie oder gar einer Verkehrsinsel eine ausreichende Möglichkeit für den Fußgänger, vor dem Überqueren einer Fahrbahn einen Halt einzulegen, dürfte der Vertrauensgrundsatz noch gewahrt sein.

Torsten Bendig und Dr. Michael Nugel, jeweils RA und FA für VerkehrsR und VersR

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