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Kollision während Vorbeifahrt an parkendem Fahrzeug


1. Die Sorgfaltspflichten beim Ein- und Aussteigen richten sich In einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 und 2) nach § 1 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO.

2. Kommt es beim Aussteigen eines Taxi-Fahrgastes zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, das die zulässige Geschwindigkeit erheblich überschreitet, tritt die Betriebsgefahr des vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht zurück.

(Leitsätze des Gerichts)

LG Saarbrücken, Urt. v. 11.2.202213 S 135/21

I. Sachverhalt

Türöffnung bei parkendem Fahrzeug, Kollision mit Vorbeifahrer

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Anspruch. Die Klägerin befuhr mit ihrem Fahrzeug eine Einbahnstraße, die als verkehrsberuhigter Bereich i.S.v. § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2.) ausgewiesen war. Linksseitig parkten Fahrzeuge, rechtsseitig stand das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Taxi. Der Erstbeklagte wollte aus dem Taxi aussteigen und öffnete hierzu die hintere linke Tür. In der Folge kam es zur Kollision mit dem Klägerfahrzeug.

AG gibt Klage statt

Das AG hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass der Unfall alleine von den Beklagten verschuldet sei. Die Beklagten hätten den gegen sie streitenden Anscheinsbeweis für einen Verstoß gegen § 14 Abs. 1 StVO nicht zu erschüttern bzw. widerlegen vermocht. Demgegenüber sei ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß der Klägerin nicht bewiesen. Die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs trete hinter den Sorgfaltsverstoß auf Beklagtenseite zurück. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten mit dem Ziel der Klageabweisung. Die Berufung hatte teilweise Erfolg.

II. Entscheidung

§§ 7, 17, 18 StVG

Nach Auffassung des LG hat das AG seiner Entscheidung zutreffend zugrunde gelegt, dass sowohl die Klägerseite als auch die Zweitbeklagte grundsätzlich für die Folgen des Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und sich für keinen der beteiligten Fahrer als unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt.

Abwägung der Verursachungsanteile

Im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander hänge die Ersatzverpflichtung damit davon ab, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden sei (§ 17 Abs. 1, 2 StVG). Die Abwägung sei aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Dabei sei in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben (vgl. BGH NJW 2016, 1100 = VRR 5/2016, 7 m.w.N.). Entgegen der Auffassung der Berufung habe das AG auf Beklagtenseite mit Recht einen unfallursächlichen Verstoß berücksichtigt. Dieser ergebe sich hier aber nicht aus § 14 Abs. 1 StVO unmittelbar, sondern aus § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO. Der Unfall habe sich in einem verkehrsberuhigten Bereich im Sinne von § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2) ereignet. Nach der Rechtsprechung (der Kammer) komme hier wie auf Parkplätzen § 1 Abs. 2 StVO zur Anwendung (vgl. LG Saarbrücken VRR 12/201, 6; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, § 42 StVO Rn 71). Den Aussteigenden treffe aber auch im Rahmen des allgemeinen Rücksichtnahmegebots nach § 1 Abs. 2 StVO die Pflicht, sich vor dem Türöffnen zu vergewissern, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer durch das Türöffnen geschädigt wird. Dabei können die strengen Sorgfaltsmaßstäbe, die im fließenden Verkehr gelten, jedenfalls sinngemäß herangezogen werden, sofern sich – wie hier – in einem bestimmten Verkehrsverhalten die besondere Gefährlichkeit gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern niederschlagen kann. Daher habe der Erstbeklagte beim Türöffnen hier für die gesamte Dauer des Aussteigevorgangs, der erst mit dem Schließen der Fahrzeugtüre und dem Verlassen der Fahrbahn beendet sei (vgl. BGH NJW 2009, 3791 = VVR 2009, 460), besondere Vorsicht und Achtsamkeit walten zu lassen.

Anscheinsbeweis gegen Türöffner?

Ob wie bei § 14 Abs. 1 StVO ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Türöffnenden eingreift, könne offenbleiben. Denn nach den bindenden (§ 529 Abs. 1 ZPO) Feststellungen des AG habe der Erstbeklagte zum einen die Tür beim Öffnungsvorgang nicht nur geringfügig, sondern jedenfalls 70-80 cm weit in den durch die Parkposition des Taxis ohnehin verengten Fahrraum geöffnet, wobei nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen das Spurenbild zudem auf einen (weiteren) Öffnungsvorgang während der Vorbeifahrt des Klägerfahrzeugs schließen lasse. Ferner habe der Erstbeklagte selbst angegeben, beim Aussteigen den Blick zu dem rechts neben ihm sitzenden Patienten gerichtet zu haben, anstatt den rückwärtigen Verkehrsraum genau zu beobachten.

Beklagte Sorgfaltspflicht verletzt

Der Erstbeklagte habe damit die an ihn gerichteten Sorgfaltsanforderungen schuldhaft verletzt. Er selbst hafte daher aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1 Abs. 2 StVO, dem grundsätzlich Schutznormcharakter zukommt (vgl. BGH NJW 2015, 1174). Auch die Zweitbeklagte hafte für den durch den Erstbeklagten beim Türöffnen verursachten Schaden (vgl. LG Saarbrücken NJW-RR 2016, 356 = VRR 4/2016, 9).

Kein Sorgfaltsverstoß der Klägerin

Ohne Erfolg machen die Beklagten – so das LG – geltend, auch auf Klägerseite sei ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß zu berücksichtigen. Derjenige, der an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, müsse nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung (§ 1 Abs. 2 StVO) einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Dieser könne nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls durchaus geringer sein als der beim Überholen und bei der Begegnung regelmäßig verlangte Mindestabstand von 1 m (vgl. etwa OLG Köln, Beschl. v. 10.7.2014 – I-19 U 57/14). Er müsse aber jedenfalls so bemessen sein, dass ein geringfügiges Öffnen der Wagentür noch möglich bleibe, wenn für den Vorbeifahrenden nicht mit Sicherheit erkennbar sei, dass sich im haltenden Fahrzeug und um das Fahrzeug herum keine Personen aufhalten (vgl. BGH VersR 1981, 533; OLG Frankfurt am Main NZV 2014, 454). Die Klägerin habe diesen Sorgfaltsanforderungen hier genügt. Nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen sei sie mit einem Abstand von 70-80 cm an dem Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren. Da die Beklagten einen Sorgfaltsverstoß der Klägerin nachzuweisen haben (vgl. OLG Celle RuS 2019, 286), sei damit ein geringerer Abstand als 80 cm nicht bewiesen. Dieser sei hier ausreichend gewesen. Konkrete Umstände, die hier einen noch größeren Seitenabstand geboten hätten, seien nicht ersichtlich. Hierfür genüge insbesondere nicht bereits, dass es sich bei dem Beklagtenfahrzeug um ein Taxi handele und mit dem Aussteigen von Fahrgästen gerechnet werden musste. Denn der Abstand von 80 cm sei grundsätzlich ausreichend, um Fahrgästen ein gefahrloses geringes Türöffnen zu ermöglichen.

Kein sonstiger unfallursächlicher Verstoß

Mit Recht hat das AG auch keinen sonstigen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO berücksichtigt. Zwar sei die Geschwindigkeit an der Unfallörtlichkeit auf 7 km/h begrenzt (Zeichen 274.1) und die Klägerin nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen jedenfalls mit 20 km/h und damit mit einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit gefahren. Ein Geschwindigkeitsverstoß dürfe bei der Haftungsabwägung aber nur Berücksichtigung finden, wenn er sich unfallursächlich ausgewirkt habe (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 28.4.2016 – 4 U 106/15). Dies bleibe hier aber nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens – wie auch die Berufung einräumt – gerade offen. Auch ein etwaiger Anscheinsbeweis (vgl. LG Potsdam, Urt. v. 28.8.2012 – 3 O 250/10) sei hier erschüttert, da nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen die ernsthafte Möglichkeit verbleibe, dass die Kollision durch eine (weitere) Türöffnung während der Vorbeifahrt verursacht wurde.

III. Bedeutung für die Praxis

Verteilung von 25 % zu 75 % zugunsten der Klägerin

M.E. sieht das LG die Verursachungsbeiträge, die zu der Kollision geführt haben, zutreffend. Der Vorbeifahrer kann solche Konstellation kaum vermeiden, außer eben mit genügendem Abstand zu den an der Seite parkenden Fahrzeugen zu fahren. Das ist hier geschehen. Da sich die Sorgfaltspflichten der Unfallbeteiligten hier aber jeweils nach § 1 Abs. 2 StVO richteten und damit einander angenähert waren, und zudem der Klägerin eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung in einem verkehrsberuhigten Bereich zur Last zu legen war, ist das LG von einer objektiv erhöhten die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs ausgegangen und es als angemessen angesehen, die Betriebsgefahr der Klägerin nicht vollständig zurücktreten zu lassen, sondern mit 25 % in die Haftungsabwägung einzustellen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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