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Vorfahrt bei beidseitiger Fahrbahnverengung

Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urt. v. 8.3.2022 – VI ZR 47/21

I. Sachverhalt

Gestritten wird um die Haftungsquote aus einem Verkehrsunfall, an dem ein Pkw und ein Lkw beteiligt waren. Vor dem Unfall fahren der Pkw und der Lkw auf der gleichen Straße. Der Pkw fährt auf der rechten Fahrbahn, der Lkw auf der linken. Hinter einer Ampel wird die Straße einspurig, auf der Fahrbahn ist die Stelle mit dem Zeichen für „beidseitige Fahrbahnverengung“ markiert. Der Lkw-Fahrer zieht den Lkw nach rechts, weil er den Pkw übersehen hat. Es kommt zur Kollision mit dem Pkw, weil dessen Führerin davon ausgegangen, war, dass sie Vorfahrt habe. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Der Schaden am Pkw wird von der Haftpflichtversicherung des Lkw auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50:50 reguliert.

Der Pkw-Halter hat Klage erhoben. Das AG hat die auf Zahlung der Differenz zu einer hundertprozentigen Haftung der beklagten Versicherung des Lkw gerichteten Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das LG zurückgewiesen. Die Revision hatte beim BGH keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Der BGH hat die hälftige Haftungsverteilung durch das LG nicht beanstandet. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG sei – wie im Rahmen des § 254 BGB – grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien (BGH NJW 2017, 1175; VersR 2018, 957, jeweils m.w.N.). Die Abwägung sei aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie sei hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung sei dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. die vorstehenden Nachw.).

Nach diesen Grundsätzen seien die Erwägungen des LG nicht zu beanstanden. Das LG habe zutreffend angenommen, dass bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) allein das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO) gelte und sich auch bei zwei gleichauf in die Engstelle fahrenden Fahrzeugen kein regelhafter Vortritt des rechts fahrenden Fahrzeugs ergebe. Das Allgemeine Gefahrenzeichen 120 („Verengte Fahrbahn“) nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO signalisiere eine Verengung der Fahrbahn. Im Falle der Verengung von zuvor zwei auf nunmehr nur noch einen Fahrstreifen gebe es – anders als beim Zeichen 121 („Einseitig verengte Fahrbahn“) – nicht einen durchgehenden und einen endenden Fahrstreifen, sondern beide Fahrstreifen werden in einen Fahrstreifen überführt. Das Durchfahren der Engstelle sei daher für sich genommen nicht mit einem Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO verbunden; auch greife das Reißverschlussverfahren des § 7 Abs. 4 StVO nicht unmittelbar. Die in der Verengung liegende und durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führe jedoch zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer im Sinne des § 1, § 3 Abs. 1 StVO (vgl. AG Düsseldorf Schaden-Praxis 2012, 176; Quarch in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn 6; Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., § 7 StVO Rn 19a; insoweit auch LG Hamburg NZV 2019, 209 m. Anm. Bachmor, NZV 2019, 209; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 40 StVO Rn 106).

Nichts anderes gelte auch dann, wenn beide Fahrzeuge gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit an die Engstelle gelangen. Auch in diesem Fall gebühre dem rechts fahrenden Fahrzeug nicht regelhaft der Vortritt (vgl. AG Düsseldorf Schaden-Praxis 2012, 176; Feskorn in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 7 StVO Rn 26; a.A. LG Hamburg, a.a.O.; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 7 StVO Rn 20; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand 1.12.2021, § 40 StVO Rn 106). Das Gefahrenzeichen 120 enthalte eine derartige Vorrangregelung nicht. Anders als die Revision meine, ergebe sich ein solcher Vorrang des rechts fahrenden Verkehrsteilnehmers auch nicht mittelbar aus einer Gesamtschau der insoweit relevanten Vorschriften der Straßenverkehrsordnung. Zwar sei grundsätzlich von zwei Fahrbahnen die rechte zu benutzen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StVO) und auch darüber hinaus möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2 StVO). Bei Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen in eine Richtung sei dieses Rechtsfahrgebot jedoch unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 und 3 StVO aufgehoben, so dass sich auch der auf dem linken Fahrstreifen der Engstelle nähernde Verkehrsteilnehmer grundsätzlich verkehrsgerecht verhalte. Die Situation einer Kreuzung oder Einmündung, in der die Vorfahrt habe, wer von rechts komme (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO), sei nicht vergleichbar.

Einem Vorrang des rechts fahrenden Fahrzeugs stünde in systematischer Hinsicht auch der Vergleich mit der Konstellation des Zeichens 121 Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO („Einseitig verengte Fahrbahn“) entgegen. Im Fall der einseitigen Fahrbahnverengung müsse das auf dem endenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen Fahrstreifenwechsel vornehmen (§ 7 Abs. 4 StVO), während das auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen grundsätzlichen Vorrang genießt. Bestehe bei der einseitigen Fahrbahnverengung links ein Vorrang des auf dem rechten Fahrstreifen fahrenden und bei der einseitigen Fahrbahnverengung rechts ein Vorrang des auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Fahrzeugs, weil sich diese jeweils auf dem durchgehenden Fahrstreifen befinden, während der andere Fahrstreifen ende, sei es folgerichtig, bei der beidseitigen Fahrbahnverengung keinem der beiden Fahrzeuge gegenüber dem jeweils anderen regelhaft einen Vorrang einzuräumen.

III. Bedeutung für die Praxis

Ergebnis dieser Ausführungen des BGH ist es, dass keines der beiden Fahrzeuge den Vorrang hatte und die Fahrzeugführer gehalten waren, sich unter gegenseitiger Rücksichtnahme (§ 1 StVO) darüber zu verständigen, wer als erster in die Engstelle einfahren durfte. Gelingt eine solche Verständigung nicht, sind die Fahrzeugführer dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen. Hier war das LG davon ausgegangen, dass sowohl der Lkw-Fahrer als auch die Pkw-Fahrerin gegen ihre Pflicht zur erhöhten Rücksichtnahme verstoßen haben. Der Lkw-Fahrer hatte – so auch der BGH – die Fahrbahnverengung nicht aufmerksam genug befahren und deshalb das Fahrzeug des Klägers nicht gesehen. Die Pkw-Fahrerin war zu Unrecht von eigener Vorfahrt ausgegangen und hatte daher sorgfaltswidrig darauf vertraut, der links neben ihr fahrende Lkw werde sich hinter ihr in die von ihr befahrene rechte Spur einfädeln. Bei der Sachlage ist das LG zutreffend von einer Haftungsteilung ausgegangen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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