Dem BGH wird die Sache zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt: Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO)?
OLG Koblenz, Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21
I. Sachverhalt
Der Betroffene erhielt einen Bußgeldbescheid wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h über 355 EUR nebst Fahrverbot von einem Monat. Zugrunde lag eine Messung mit dem ESO-Einseitensensor ES 3.0, Software-Version 1.007.2. Schon im behördlichen Verfahren beantragte der Verteidiger Einsichtnahme in die gesamten (im Einzelnen bezeichneten) Messunterlagen, darunter auch „in die Falldatensätze der gesamten Messreihe“ (nicht nur in die Falldatensätze der tatgegenständlichen Messung des Betroffenen). Die Bußgeldbehörde ließ daraufhin dem Verteidiger eine CD mit der Gebrauchsanweisung, dem Schulungsnachweis, der Falldatei inkl. Passwort und Token, einem entschlüsselten Bild, dem Messbild mit Symbolen sowie der Statistikdatei zukommen. Den Antrag auf Vorlage der gesamten Messreihe lehnte sie unter Hinweis auf datenschutzrechtliche Gründe sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen anderen Fahrer ab. Der Verteidiger stellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG), den das AG zurückwies. Im Hauptverfahren wiederholte der Verteidiger seinen Antrag auf vollständige Einsicht in die Messunterlagen, insbesondere in die gesamte Messreihe. Das AG reagierte darauf nicht und verurteilte ihn schließlich wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 195 EUR nebst Fahrverbot von einem Monat. Der Betroffene hat Rechtsbeschwerde eingelegt und rügt die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren.
II. Entscheidung
Das OLG beabsichtigt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen, sieht sich daran jedoch durch den Beschl. des OLG Jena vom 17.3.2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021, Nr. 5) und den Beschl. des OLG Stuttgart v. 12.10.2021 (4 Rb 25 Ss 1023/20, zfs 2021, 709) gehindert und legt daher im Wege der Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) dem BGH die Frage vor, ob in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt.
Das OLG Koblenz hatte zunächst das Verfahren bis zur Entscheidung des BGH über den Vorlagebeschluss des OLG Zweibrücken – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – vom 4.5.2021, VRR 7/2021, 22, ausgesetzt, jedoch sodann die Mitteilung erhalten, dass das Vorlageverfahren den 4. Strafsenat des BGH noch gar nicht erreicht hatte (sondern ggf. noch beim Generalbundesanwalt zur Stellungnahme anhängig war). Da wegen des Fahrverbots ein Zuwarten nicht sachgerecht war, hat das OLG Koblenz die Rechtsfrage ebenfalls dem BGH vorgelegt.
Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt (vgl. Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 225 ff.). Das BVerfG hat diese Rechtsprechung inzwischen mehrfach bestätigt (Beschl. v. 28.4.2021 (2 BvR 1451/18) und vom 4.5.2021 (2 BvR 868/20 und 2 BvR 277/19)). Das OLG Koblenz will allerdings – wie schon das OLG Zweibrücken (Beschl. v. 4.5.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, VRR 7/2021, 22) und das BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, VRR 1/2021, 14), und entgegen dem OLG Jena und dem OLG Stuttgart (s.o.) – gleichwohl dem Betroffenen das Einsichtsrecht in die Messunterlagen des gesamten Tattages (also in diejenigen Daten, die nicht den Betroffenen, sondern dritte Verkehrsteilnehmer betreffen) versagen. Das OLG ist der Meinung, dass Messdaten, die zwar im zeitlichen örtlichen Zusammenhang mit dem vorgeworfenen Verstoß erhoben worden sind, aber allein andere Verkehrsteilnehmer betreffen, „irrelevant sein dürften“.
Zudem würde die Erstreckung des Beweisbegehrens auf die Daten sämtlicher am Tattag gemessener Fahrzeuge zu einer „massiven Überlastung der Bußgeldgerichte führen“.
Ferner greife die Erstreckung des Informationsanspruchs des Betroffenen auf die Daten der gesamten Messreihe „in erheblicher Weise in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen Dritten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein“. Dem Informationsinteresse des Betroffenen komme nicht der Vorrang vor diesen Rechten Dritter und der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege zu.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Versuche des BayObLG, des OLG Zweibrücken und des OLG Koblenz, das nunmehr auch vom BVerfG dem Betroffenen zuerkannte Einsichtsrecht in die Messerunterlagen jedenfalls hinsichtlich vorhandener Rohmessdaten wieder zu relativieren, vermögen nach hiesigem Dafürhalten auch weiterhin nicht zu überzeugen (vgl. auch Verf., DAR 2021, 377 m.w.N.). Sie dürften insbesondere dem Umstand nicht gerecht werden, dass die vom BVerfG bestätigten Grundsätze des standardisierten Messverfahrens mit den damit verbundenen Erleichterungen für die Beweisführung des Gerichts und die Darlegungen im Urteil gerade nur dann zu legitimieren sind, wenn komplementär dem Betroffenen und seiner Verteidigung die Möglichkeit eingeräumt wird, die Richtigkeit der Messung eigeninitiativ zu überprüfen und in Frage zu stellen (vgl. Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7; DAR 2018, 541, 544). Dies setzt aber ein „umfassendes“ (BVerfG, a.a.O., Rn 50) Zugangsrecht zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen voraus, zu denen auch vorhandene Rohmessdaten/Einzelmesswerte des gesamten Tattages gehören dürften. Darauf hat bereits Cierniak ist seinem grundlegenden Beitrag in zfs 2012, 664, 676, hingewiesen (mit technischen Beispielen). Hinsichtlich der vermeintlichen Gefahren für die Rechtspflege durch Überlastung hat das BVerfG ausdrücklich ausgeführt: „Dass dort, wo ein über den Inhalt der Bußgeldakte hinausgehender Informationszugang bereits gewährt wird, die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege beeinträchtigt wäre, ist nicht ersichtlich.“ (BVerfG, a.a.O., Rn 61) und:„Etwaigen praktischen Bedenken dürfte durch eine verfahrenseffiziente Handhabung der Einsicht begegnet werden können“ (a.a.O., Rn 58). Dem ist nichts hinzuzufügen, höchstens, dass die Einhaltung eines fairen Verfahrens stets zumutbar ist (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 1, 5).
Bemerkenswert ist, dass die o.g. Gerichte nunmehr ihr Herz für den Datenschutz entdecken. Gerade das BayObLG hat bereits im Jahr 1990 entschieden, dass Gründe des „Geheimnisschutzes“ der Übersendung eines Videobandes (einschließlich der Dritte betreffenden Verkehrsvorgänge) an den Verteidiger nicht entgegenstehen (NJW 1991, 1070). Gleiches gilt für das OLG Zweibrücken (StV 2017, 437 = VRR 6/2017, 12: „Persönlichkeits- und Datenschutzrechte Dritter stellen in der Regel keine solchen Ausschlussgründe dar“; vgl. Burhoff/Niehaus, a.a.O., Rn 233; vgl. auch Krenberger NZV 2020, 97, 98). U.a. regelt § 24 KunstUrhG mit Blick auf das hier in erster Linie einschlägige Recht am eigenen Bild ausdrücklich, dass für Zwecke der Rechtspflege und der öffentlichen Sicherheit von den Behörden Bildnisse ohne Einwilligung des Berechtigten sowie des Abgebildeten vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zur Schau gestellt werden dürfen. Dem Gesetz selbst dürfte daher erkennbar die Vorbewertung zu entnehmen sein, dass dem Zweck der Rechtspflege (dazu gehört auch die aus Gründen der Herstellung eines fairen Verfahrens erforderliche Zurverfügungstellung des Bildes und der Messdaten eines Dritten gegenüber dem Verteidiger des Betroffenen) gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Dritter der Vorrang zukommt (vgl. Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 1, 6). Dass das OLG Koblenz – ohne jeden Beleg – die „Gefahr“ sieht, dass der Verteidiger die „Personalien der betroffenen Fahrzeuge zu verfahrensfremden Zwecken“ benutzen könnte – „und sei es nur, um sie als Mandaten in weiteren Bußgeldverfahren zu gewinnen“–, und mit diesem spekulativen Szenario einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren gestützten Informationsanspruch zurückweisen will, dürfte ebenfalls kaum geeignet sein, die Position des OLG Koblenz auf der Ebene von Sachargumenten zu stützen.
Nachdem die Verweigerung der Einsichtnahme in Messunterlagen trotz des Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 jedenfalls in Teilbereichen fortdauert (vgl. auch Cierniak/Niehaus NStZ 2014, 527: „anachronistisch wirkende Blockadehaltung“), bedarf es nunmehr einer Entscheidung des BGH. Die weitere Entwicklung in diesem Bereich bleibt – etwa mit Blick auf das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Frage der Rechtsfolgen, wenn die Rohmessdaten nicht gespeichert werden (BVerfG, 2 BvR 1167/20) – abzuwarten.
RiLG Dr.Holger Niehaus, Düsseldorf