1. Es spricht vieles dafür, dass dem Gesetzgeber bei der Einordnung von „E-Tretrollern“ ein „redaktionelles Versehen“ unterlaufen ist.
2. Ist eine zu entscheidende Frage hoch umstritten und dazu in dem jeweiligen Bezirk noch keine obergerichtliche Rechtsprechung ergangen, kann eine dringende Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 111a StPO nicht angenommen werden.
(Leitsätze des Verfassers)
AG Wuppertal, Beschl.v. 17.12.2021 – 2 Gs 47/21 (aufgehoben durch LG Wuppertal v. 2.2.2022 – 25 Qs 63/21)
I. Sachverhalt
Der Beschuldigte befuhr am 30.10.2021 gegen 02:08 Uhr, mit einem Elektrokleinstfahrzeug mit Lenk- oder Haltestange (E-Roller) der Marke Bolt C1 mit dem Versicherungskennzeichen … unter anderem die K. Straße in S.
Zeitgleich befuhren PK E und PK F im Funkstreifenwagen die B. Straße, dort kam ihnen der spätere Beschuldigte entgegen. Die Beamten entschieden sich, diesen zu kontrollieren, wendeten ihren Streifenwagen und hielten den Beschuldigten in Höhe des Hauses … an. Da bei der Kontrolle starker Alkoholgeruch wahrgenommen wurde, wurde eine freiwillige Atemalkoholmessung durchgeführt, die einen Wert von 0,7mg/l ergab. Die um 04:08 freiwillig abgegebene Blutprobe ergab eine mittlere BAK von 1,55 Promille. Die Staatsanwaltschaft beantragte, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen und begründete dies im Wesentlichen damit, dass zwar in Rechtsprechung und Literatur derzeit stark divergierende Auffassungen zur Anwendbarkeit des § 69 Abs. 2 StGB in solchen Fällen bestünden, allerdings die mit der alkoholbedingten Fahrunsicherheit einhergehende Unvorhersehbarkeit des Fahrverhaltens für andere Verkehrsteilnehmer eine dem Regelfall des § 69 Abs. 2 StGB gleichgelagerte Gefährdung der Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer bedeute. Dazu wurde auf OLG Zweibrücken, Beschl. v. 29.6.2021, 1 OWi 2 SsBs 40/21, verwiesen.
II. Entscheidung
Das Amtsgericht weist den Antrag der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen zurück. Eine dringende Wahrscheinlichkeit, dass dem Beschuldigten in einer Hauptverhandlung die Fahrerlaubnis entzogen werde, bestehe nicht. Dabei lässt das Amtsgericht offen, ob es sich bei einem Fahrzeug, wie es vom Beschuldigten genutzt wurde, um ein Kraftfahrzeug handelt, was in Rechtsprechung und Literatur höchst umstritten sei. Dazu greift das Amtsgericht einen bisher wenig beachteten Aspekt auf, und führt aus: „Es gibt gute Argumente für die Ansicht, dass dem nicht so ist, es sich vielmehr um ein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers handelt und diese Fahrzeuge wie Pedelecs zu behandeln sind.“
Dann setzt sich das Amtsgericht mit der Frage auseinander, unter welchen Gesichtspunkten eine „dringende Wahrscheinlichkeit“ im Sinne des § 111a StPO anzunehmen sein kann, was in der Hauptsache in dieser Frage nicht vorhersehbar sei, zumal es dazu noch keine obergerichtliche Entscheidung aus dem entsprechenden Gerichtsbezirk gebe. Schon aus diesem Grund sei es nicht dringend wahrscheinlich, dass dem Beschuldigten in der Hauptverhandlung die Fahrerlaubnis endgültig entzogen werden wird. Aber selbst dann, wenn man zu dem Ergebnis käme, so das Amtsgericht weiter, der E-Roller sei ein Kraftfahrzeug, dann stelle sich nach wie vor die Frage, ob ein Regelfall gemäß § 69 StGB vorliege oder nicht und welche Tatsachen festgestellt werden können, um zu einer Fahrerlaubnisentziehung zu kommen.
Bei dieser derzeitigen Lage komme, so das Amtsgericht, eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht.
III. Bedeutung für die Praxis
Durch Beschluss des LG Wuppertal vom 2.2.2022 (25 Qs 63/21) wurde die Entscheidung des AG Wuppertal aufgehoben. Aus meiner Sicht nicht überzeugend – auf jeden Fall nicht, was die Vorläufigkeit der Entscheidung und die Anwendung des Grenzwertes von 1,1 Promille angeht. Das LG legt den Grenzwert selbst fest, obwohl der BGH dies in seiner Entscheidung vom 20.3.2021 (4 StR 366/20) ausdrücklich offengelassen hat. Dabei stellt das LG selbst Mutmaßungen über die Fahreigenschaften des E-Tretrollers im Vergleich zu einem Pedelec an, ohne auf die Wertung des Verordnungsgebers einzugehen, der die Fahreigenschaften am ehesten mit denen von Pedelecs für vergleichbar hält. Ferner hält das LG einen „Regelfall“ des § 69 StGB ohne weiteres für gegeben, ohne sich mit der Einschätzung des BGH auseinanderzusetzen, dass der „E-Tretroller“ erst nach der gesetzlichen Bestimmung des „Regelfalls“ eingeführt wurde.
Das Amtsgericht indes differenziert sorgfältig zwischen den Voraussetzungen für eine „Prognoseentscheidung“ über die anzunehmende „dringende Wahrscheinlichkeit“ i.S.d. § 111a StPO und der tatsächlichen, späteren Anwendung des § 69 StGB, hinsichtlich der Frage der Einstufung von Elektrokleinstfahrzeugen als „Kraftfahrzeug“ i.S.d. § 69 StGB. Dabei ist es aus Sicht des Verfassers wichtig, sich einmal mit den Drucksachen des Verordnungsgebers zu beschäftigen, insbesondere deren Begründungen.
Das OLG Zweibrücken und das LG Wuppertal setzen sich aus hiesiger Sicht nicht ausreichend mit dem Offenkundigen auseinander: Der Gesetzgebe hat die Konsequenz für die Anwendung des § 69 StGB bei der Einstufung des E-Rollers als „Kfz“ und damit der Grenze von 1,1 Promille schlicht und ergreifend übersehen. Das zuständige Ministerium mit dem ihm seinerzeit vorstehenden Minister, der auch den „E-Roller eingeführt“ hat, ist schließlich auch für seinen „Zitierfehler“ bei der Änderung der BKatVO in 2020 berühmt geworden.
Streng genommen handelt es sich bei einem E-Roller gar nicht um ein „Kfz“, sondern konkret um ein „eKF“ (vgl. BR. Drs. 158/19- Beschl. v. 17.5.2019; § 3 Abs. 2 Nr. 1g FZV). Nachdem bei Einführung der E-Roller in Deutschland im Rahmen der eKFV in einem „ersten Ritt“ (nach langer Vorbereitung) ein Problem übersehen wurde (vgl. s.o.), wurde noch im Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren § 3 der eKFV geändert, so dass es Personen erst ab 14 Jahren gestattet sein sollte, E-Roller zu führen. Konkret heißt es zur Begründung der Änderung des entsprechenden § 3 eKFV:
„Mit der Neufassung des § 3 wird geregelt, dass nur solche Personen mit Elektrokleinstfahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum fahren dürfen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Diese Regelung orientiert sich an der Empfehlung des 50. Deutschen Verkehrsgerichtstages, dass Pedelecs für die Benutzung durch Kinder unter 14 Jahren nicht geeignet sind. Die Fahreigenschaften sowie die Verkehrswahrnehmung von Elektrokleinstfahrzeugen mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 20 km/h ähneln am stärksten denen des Pedelecs (Fahrrad mit einer elektromotorischen Trethilfe). Damit wird Selbstgefährdungen oder Gefährdungen Dritter durch zu junge und im Straßenverkehr unerfahrene Nutzer entgegengewirkt.“
Das zeigt den ganzen Widersinn in den Verordnungen, es wird deutlich, dass der Verordnungsgeber die Konsequenzen bei der Einordnung schlicht übersehen hat. Hinzu kommt: Wer nach OLG Zweibrücken und LG Wuppertal wegen einer E-Tretroller-Fahrt im fahruntüchtigen Zustand die Fahrerlaubnis einmal entzogen bekommen hat, darf im Anschluss dennoch weiterhin E-Tretroller im öffentlichen Straßenverkehr führen. Dabei ist doch zwischen den Voraussetzungen der Anwendung der §§ 316 und 69 StGB zu differenzieren, was offenbar häufig vermischt wird: der § 316 StGB verlangt das Führen eines „Fahrzeuges“, so dass auch Fahrradfahrer wegen einer Trunkenheitsfahrt verurteilt werden können. Für die Entziehung der Fahrerlaubnis als Regelfall des § 69 StGB wird aber ein „Kraftfahrzeug“ vorausgesetzt. Damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage und dem Umstand, dass nicht auf die subjektive Gefährlichkeit einer bestimmten Art und Weise eines Führens abgestellt werden kann. Alleine die Einordnung der Fahrzeuggattung ist entscheidend. Dazu abschließend eine Bemerkung: Wer ein sogenanntes „Longboard“ (langes Skateboard) „fährt“, wird als Fußgänger behandelt, § 24 Abs. 1 StVO. Wer also ein Longboard betrunken „fährt“, kann nicht einmal – anders als Fahrradfahrer – wegen einer Trunkenheitsfahrt verurteilt werden.
Patrick Lauterbach, RA und FA für Strafrecht