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Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichen der Punktegrenze – maßgeblicher Kenntnisstand der Behörde

1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift ermöglicht die Berücksichtigung von im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten für einen Verkehrsverstoß auch dann, wenn dieser vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei der Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie – wie vorliegend – erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist. Zudem stellt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab.

2. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss die Fahrerlaubnisbehörde sich weder das Wissen, über das eine im Maßnahmensystem „vorgelagerte“ Stelle hinsichtlich weiterer Verkehrsverstöße des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers verfügt, noch ein Verschulden dieser Stellen bei der Datenübermittlung zurechnen lassen (vgl. BVerwGE 157, 235 = NJW 2017, 2933).

(Leitsätze des Gerichts)

OVG Münster, Beschl. v. 28.10.2021 – 16 B 1115/21

I. Sachverhalt

Der Antragsteller wendet sich erfolglos im Weg des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die behördliche Entziehung der Fahrerlaubnis vom 26.1.2021. Der am 30.5.2019 vom Antragsteller begangene, mit seit 14.9.2019 rechtskräftigem Bußgeldbescheid geahndete Geschwindigkeitsverstoß wurde am 20.11.2020 im Fahreignungsregister gespeichert und vom Kraftfahrt-Bundesamt dem Antragsgegner mit Schreiben vom 27.11.2020 mitgeteilt Dies führte im Fahreignungs-Bewertungssystem zu einem Punktestand des Antragstellers von acht Punkten.

II. Entscheidung

Dem Antragsteller sei nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis zu entziehen gewesen. Der Punkt für die am 30.5.2019 begangene Zuwiderhandlung, die vor der mit der am 17.11.2020 ausgestellten Verwarnung eingetretenen Punktereduzierung (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG) erfolgte, habe gem. § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG den Punktestand von sieben auf acht erhöht, weil der Antragsgegner hiervon erst mit Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 27.11.2020 Kenntnis erlangte. Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG würden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift ermögliche die Berücksichtigung von im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten für einen Verkehrsverstoß auch dann, wenn dieser vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei der Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie – wie vorliegend – erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist. Zudem stelle § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab. Nach dieser Bestimmung erhöhten Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand (BVerwGE 157, 235 = NJW 2017, 2933 = NZV 2017, 397 [Hühnermann</span>]; OVG Münster NJW 2018, 643 = NZV 2018, 151 [Gall</span>]; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn 88a f.). Dass diese Kenntnisnahme (und die diese bewirkende Mittteilung des Kraftfahrt-Bundesamts) hier erst mehr als ein Jahr nach der am 14.9.2019 eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids und damit nach Entstehen des Punktes für den zugrunde liegenden Verkehrsverstoß (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG) erfolgte, führe zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere habe sich die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners nicht die – zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwarnung vom 17.11. 2020 gegebene – Kenntnis anderer, der Punkteeintragung „vorgelagerter“ Stellen, hier also der Bußgeldbehörde, zurechnen lassen müssen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung müsse die Fahrerlaubnisbehörde sich weder das Wissen, über das eine im Maßnahmensystem „vorgelagerte“ Stelle hinsichtlich weiterer Verkehrsverstöße des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers verfügt, noch ein Verschulden dieser Stellen bei der Datenübermittlung zurechnen lassen. Eine Zurechnung von Wissen oder von Verschulden bei der Datenübermittlung liefe der Konzeption des Gesetzgebers zuwider, nach der gerade auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abgestellt werden soll. Abgesehen davon fehle es an der erforderlichen Rechtsgrundlage für eine solche Zurechnung. Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheide die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand sei maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG), könne nichts anderes gelten. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann (BVerwGE a.a.O.).

Es seien auch keine Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch ersichtlich sind und es sei nicht zu erkennen, dass die Verzögerung der Mitteilung nicht nur auf einem bloßen Versehen beruht. Allein der Zeitablauf von ca. 14 Monaten begründe keinen Anhalt für einen (ggf. relevanten) Rechtsmissbrauch oder für den vom Antragsteller geltend gemachten Verstoß gegen das Willkürverbot. Eine Übertragung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG komme insoweit nicht in Betracht. Unabhängig davon, dass der Gesetzgeber diese Frist des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts im speziellen, das Fahreignungsregister betreffenden (Verfahrens-)Recht des § 4 StVG nicht entsprechend verankert hat (OVG Münster NJW 2021, 1479), handele es sich bei der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG um eine Entscheidungsfrist, die erst mit der Kenntnis aller relevanten Tatsachen beginnt. Es genüge auch nicht, dass die Gründe für einen längeren Zeitablauf nicht erkennbar sind. Dem Urteil des BVerwG a.a.O. lasse sich nicht entnehmen, dass für die Annahme eines – im Rahmen des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG etwaig relevanten – Rechtsmissbrauchs allein die Verzögerung an sich ausreichend ist, auch wenn deren Grund nicht abschließend geklärt ist. Soweit der Senat früher (NJW 2015, 2136) noch ausgeführt hat, „Allerdings muss die Kenntnisnahme der Fahrerlaubnisbehörde von Punkten für Zuwiderhandlungen, auf die § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n.F. abhebt, den oben bezeichneten Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Willkürfreiheit genügen“,(„Damit wäre es etwa nicht zu vereinbaren, wenn der zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegende rechtskräftig geahndete Verstoß schon länger zurückliegt …“), halte der Senat an dieser Auffassung nicht mehr fest. Schließlich sei auch in den Blick zu nehmen, dass, soweit die Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG nicht nur vom Eintritt der Rechtskraft der Ahndung eines relevanten Verkehrsverstoßes abhängt, sondern auch vom Ablauf bzw. der Dauer des anschließenden Verwaltungsverfahrens, die damit verbundenen zusätzlichen Unwägbarkeiten nach höchstrichterlicher Rechtsprechung hinzunehmen sind.

III. Bedeutung für die Praxis

Nach der Reform der Vorschriften des Fahreignungsregisters zum 1.5.2014 ist die Frage der Auswirkung von punktebewehrten Verstößen, die der Fahrerlaubnisbehörde erst nach einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG bekannt werden, mehrfach Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen gewesen (neben den Genannten VGH Mannheim DAR 2015, 658 = NZV 2016, 198; VGH München NJW 2016, 2283 = DAR 2016, 411; Nw. bei Pießkalla NZV 2017, 261). Das BVerwG a.a.O. hat sich wie folgt positioniert: „Die Fahrerlaubnis ist nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG auch dann zu entziehen, wenn der Fahrerlaubnisinhaber die zum Erreichen der Acht-Punkte-Grenze führende weitere Zuwiderhandlung vor der Erteilung der Verwarnung begangen hatte und diese Zuwiderhandlung zum Zeitpunkt der Verwarnung rechtskräftig geahndet und im Fahreignungsregister gespeichert, der Fahrerlaubnisbehörde aber noch nicht übermittelt war. Eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG tritt in einem solchen Fall nicht ein. „Das OVG Münster folgt dieser Linie, lehnt eine Zurechnung der Kenntnis anderer Behörden von dem Verstoß ab und stellt eine unklare Formulierung in der Entscheidung NJW 2015, 236 klar. Etwas anderes kann nur gelten, wenn die Unkenntnis der Fahrerlaubnisbehörde als rechtsmissbräuchlich einzuordnen ist (so bereits auch VGH München a.a.O.). Diese Rechtsprechung ist bei einschlägigen Fällen zugrunde zu legen. Dem Anwalt eines Betroffenen bleibt nur die Möglichkeit, einen Rechtsmissbrauch bei der verzögerten Bekanntgabe des Verstoßes substanziiert darzulegen. Selbst bei längerem Zeitablauf von über einem Jahr seit dem Verstoß sind die Erfolgsaussichten aber eher überschaubar.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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