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Verwertung nicht verlesener Urkunden und Rechtsbeschwerde

Wird beanstandet, das Tatgericht habe den Inhalt in der Hauptverhandlung nicht verlesener Urkunden verwertet, so gehört zur ordnungsgemäßen Begründung der Verfahrensrüge nicht nur die Behauptung, dass die Urkunde nicht verlesen worden, sondern auch die Darlegung, dass der Inhalt der Urkunde nicht in sonst zulässiger Weise eingeführt worden sei.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Koblenz, Beschl. v. 5.11.2021 – 2 OWi 32 SsRs 254/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen u.a. wegen Nichtbeachtung eines Überholverbotes zu einer Geldbuße von 135,00 EUR verurteilt. Der Betroffene war von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden. An der Hauptverhandlung haben weder der Betroffene noch sein Verteidiger teilgenommen. Der Betroffene hat gegen das Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg.

II. Entscheidung

Das OLG hat das amtsgerichtliche Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufgehoben. Bei der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs handele es sich um eine Verfahrensrüge, die der Formvorschrift der §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügen müsse. Das sei hier der Fall. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs sei auch insoweit gerügt worden, als die Inbegriffsrüge erhoben worden sei. Gründe das Gericht seine Überzeugung nämlich auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte/Betroffene dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern konnte, so verstoße das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (BGH NStZ 2017, 375; KG, Beschl. v. 14.9.2017 – 3 Ws 282/17, VA 2018, 11). Wenn mit dem der Inbegriffsrüge zugrunde liegenden Verstoß aber stets eine Verletzung des rechtlichen Gehörs einhergehe, beinhalte die Erhebung der Inbegriffsrüge zwingend auch die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Dies gelte hier umso mehr als der Rechtsbeschwerdeführer später ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des rechtlichen Gehörs rüge, dass das Gericht sich im Rahmen der schriftlichen Urteilsgründe auch auf eine Bedienungsanleitung beziehe, die weder Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, noch sich überhaupt bei den Akten befunden habe.

Die Rüge sei auch ordnungsgemäß erhoben. Werde beanstandet, das Tatgericht habe den Inhalt in der Hauptverhandlung nicht verlesener Urkunden verwertet, so gehöre zur ordnungsgemäßen Begründung der Verfahrensrüge nicht nur die Behauptung, dass die Urkunde nicht verlesen worden, sondern auch die Darlegung, dass der Inhalt der Urkunde nicht in sonst zulässiger Weise eingeführt worden sei (vgl. u.a. BGH NStZ 2014, 604; OLG Düsseldorf StV 1995,120; KG StV 2013, 433; Sander in: Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 261 Rn 265). Die Verfahrensrüge sei nur dann in zulässiger Weise erhoben, wenn der Beschwerdeführer die den Mangel enthaltenden Tatsachen angebe. Diese Angaben müssen objektiv richtig (vgl. BGH StraFo 2011, 318), mit Bestimmtheit und so genau und vollständig (ohne Bezugnahmen und Verweisungen) erfolgen, damit das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift – ohne Rückgriff auf die Akte und auf das Hauptverhandlungsprotokoll – erschöpfend prüfen könne, ob ein Verfahrensfehler vorliege, wenn die behaupteten Tatsachen, ihre Erweisbarkeit vorausgesetzt, zutreffen (BGH, Beschl. v. 12.3.2013 – 2 StR 34/13; KG, Beschl. v. 15.8.2017 – 3 Ws (B) 182/17; KK/Gericke, StPO 8. Aufl. 2019, § 344 Rn 38-39).

Diesen Anforderungen genügte nach Auffassung des OLG die Rechtsbeschwerdeschrift des Verteidigers. Zunächst werde behauptet und durch das Protokoll, das sowohl vollständig als auch im Rahmen der Rüge nochmals auszugsweise, soweit es die Beweisaufnahme angehe, wiedergegeben wird, belegt, dass weder das Messprotokoll noch die Bedienungsanleitung förmlich zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden seien. Es sei weder das Selbstleseverfahren angeordnet, noch sei im Rahmen des Selbstleseverfahrens das Messprotokoll eingeführt worden. Die Bedienungsanleitung sei ebenfalls nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden. Da sich aus der Rechtsbeschwerdebegründung – namentlich aus dem vollständig abgedruckten Protokoll – ergebe, dass niemand in der Hauptverhandlung anwesend war, könne auch ausgeschlossen werden, dass die Urkunden im Wege eines nicht zu protokollierenden Vorhaltes oder einer sonstigen Erörterung eingeführt worden seien.

Der Zulässigkeit der Rüge des rechtlichen Gehörs stehe auch nicht entgegen – so das OLG –, dass der Betroffene nicht darlegt, was er im Falle der ordnungsgemäßen Einführung der Beweismittel in die Hauptverhandlung vorgetragen hätte. Denn der Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs liege nicht darin begründet, dass das Gericht die Beweismittel nicht in die Hauptverhandlung eingeführt habe, sondern darin, dass es im Urteil Beweismittel verwertet habe, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Der Mangel des Urteils und damit die Verletzung des rechtlichen Gehörs seien also in der Verwertung begründet. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Betroffene aber nichts mehr vortragen können. Dass das Urteil auf der unzulässigen Verwertung beruhe trage er vor. Dies ergebe sich auch aus den Urteilsgründen, auf die der Senat aufgrund der erhobenen allgemeinen Sachrüge zurückgreifen dürfe.

Das rechtliche Gehör sei auch verletzt, da das AG mit der Bedienungsanleitung und Messprotokoll Beweismittel verwertet habe, die nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, wobei sich die Bedienungsanleitung nicht einmal bei den Akten befunden habe, so dass der Betroffene mit deren Verwertung von Anfang an nicht zu rechnen hatte. Das Urteil beruhe auch auf dem Verfahrensfehler, denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht ohne die Verwertung der Bedienungsanleitung und des Messprotokolls zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das Gericht stütze sich an mehreren Stellen des Urteils auf das Messprotokoll und nehme auch ausdrücklich auf die Bedienungsanleitung Bezug.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung bringt nichts wesentlich Neues aus Koblenz, denn bei der entschiedenen revisions- und damit auch rechtsbeschwerderechtlichen Frage handelt es sich um einen Klassiker. An der Stelle werden in der Praxis aber immer wieder Fehler gemacht, so dass es zu begrüßen ist, dass das OLG Koblenz noch einmal in Erinnerung ruft, was bei der hier erhobenen „Inbegriffsrüge“, dass im Urteil Beweismittel. i.d.R. Urkunden, verwertet worden sind, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zur ordnungsgemäßen Begründung (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) gehört. Das ist einmal der Vortrag, dass die Urkunde nicht verlesen worden ist. Hinzukommen muss die Darlegung, dass der Inhalt der Urkunde nicht in sonst zulässiger Weise eingeführt worden ist. Darum, ob dazu auch gehört, dass die Urkunde nicht im Selbstleseverfahren eingeführt worden ist, wovon das OLG auszugehen scheint, kann man streiten. Denn das Selbstleseverfahren ist sicherlich ein besonderes Verfahren, von dem eben wegen der Besonderheit nicht grundsätzlich ausgegangen werden kann. Das gilt sicherlich für eine Bußgeldsache beim AG. Vorgetragen werden muss aber auf jeden Fall, dass die Urkunde auch nicht ggf. im Rahmen eines Vorhalts bei einer Zeugenvernehmung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden ist. Denn das ergibt sich, da der Vorhalt nicht protokolliert werden muss, nicht aus dem Protokoll der Hauptverhandlung (§§ 273, 274 StPO). Das war hier offenbar nicht vorgetragen, was aber keine negativen Auswirkungen hatte, da nach dem Protokoll niemand in der Hauptverhandlung vernommen worden ist. Wem soll dann vorgehalten worden sein? Schließlich könnte es sich empfehlen, ggf. doch vorzutragen, was man in der Hauptverhandlung dargelegt hätte, wenn man sich erklärt hätte. Und ggf. verwendet man auch ein paar Worte auf die Beruhensfrage (§ 337 StPO).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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