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Reparaturkostenersatz trotz gutachterlich ermitteltem Schaden oberhalb der 130 %-Grenze

Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Tatrichters, die erforderliche Reparatur – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – seines Fahrzeugs unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts innerhalb der 130 %-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, und stellt der Geschädigte damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder her, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen, kann er Ersatz des entstandenen Reparaturaufwands verlangen.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urt. v. 16.11.2021VI ZR 100/20

I. Sachverhalt

Kalkulierte Reparaturkosten liegen über 130 % des WBW

Der Kläger hatte nach einem Verkehrsunfall, der alleinverantwortlich durch den Pkw der Beklagtenseite verursacht worden war, ein Schadengutachten eingeholt. Es wurden voraussichtliche Bruttoreparaturkosten in Höhe von 7.148,84 EUR, ein Bruttowiederbeschaffungswert in Höhe von 4.500,– EUR und ein Bruttorestwert in Höhe von 1.210,– EUR ermittelt. Die Beklagte rechnete auf Totalschadenbasis ab und legte ihrer Abrechnung einen mit Hilfe einer Restwert-Online-Börse ermittelten Restwert in Höhe von 1.420,– EUR zugrunde. Der Kläger ließ das Fahrzeug zum Preis von 5.695,49 EUR brutto reparieren und nutze es weiter. Die insoweit zur Regulierung der Beklagten bestehende Differenz verfolgt der Kläger mit seiner Klage.

Während des erstinstanzlichen Verfahrens wurde das Fahrzeug veräußert und zur Frage der vom Kläger behaupteten sach- und fachgerechten und den Vorgaben des Gutachtens entsprechenden Reparatur des Fahrzeuges ein Sachverständigengutachten eingeholt. Zur Erstellung des Gutachtens wurden dem gerichtlichen Sachverständigen Lichtbilder zur Verfügung gestellt, welche vor, während und nach der Reparatur des Fahrzeuges erstellt worden waren.

Das Amtsgericht und das Landgericht gaben der Klage statt. Das Landgericht ließ die Revision zu, mit welcher die Beklagte Ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt.

II. Entscheidung

Der BGH verwies den Rechtsstreit zwar zurück an das Landgericht, bestätigte jedoch grundsätzlich die Auffassung des Amts- und des Landgerichts, wonach der Geschädigte in der hier vorliegenden Konstellation den Ersatz der tatsächlich angefallenen Bruttoreparaturkosten sowie einen etwaigen merkantilen Minderwert ersetzt verlangen könne.

Ob ein Ersatzanspruch auch dann besteht, wenn abweichend von der Schätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen für die vollständige und fachgerechte Reparatur des Fahrzeugs Kosten entstehen, die sich unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts auf 101 % bis 130 % des Wiederbeschaffungswerts belaufen, hatte der BGH bislang noch nicht entscheiden müssen. Diese Frage sei nunmehr aber nach Auffassung des BGH zu bejahen. Die „Integritätsspitze“ von 30 % könne dem Geschädigten nicht versagt werden, vorausgesetzt, er nutzt das Fahrzeug weiter. In diesem Fall werde der gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähige Betrag durch den tatsächlich entstandenen Reparaturaufwand und nicht die hiervon abweichende Einschätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen abgebildet. Der Geschädigte könne dann Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten und des merkantilen Minderwerts verlangen.

Grundlage für Überzeugungsbildung des Gerichts

Zu beanstanden sei nach Auffassung des BGH im vorliegenden Fall jedoch, dass die vom Berufungsgericht als bindend angesehene Feststellung des Amtsgerichts, der gerichtliche Sachverständige habe aufgrund der Auswertung der vor, während und nach der Reparatur aufgenommenen Fotos eine sach- und fachgerechte Reparatur bejaht, von dessen Ausführungen im Gutachten nicht gedeckt seien. Dieser habe vielmehr eher einschränkende Äußerungen gemacht, auf die nach der Veräußerung des Fahrzeugs eingeschränkte Beurteilungsgrundlage hingewiesen und sich auf die relativierende, keine positive Feststellung enthaltende Aussage beschränkt, nach der Auswertung der ihm vom Kläger zur Verfügung gestellten Lichtbilder seien keine Anzeichen vorhanden, die gegen eine fach- und sachgerechte Reparatur sprächen. Diese Angaben stellten keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts dar.

III. Bedeutung für die Praxis

BGH Urt. v. 14.12.2010 – VI ZR 231/09

Ein weiterer Baustein in der Rechtsprechung zum sog. 4-Stufen-Modell des BGH. Dieser verweist in seiner Entscheidung auf den vergleichbaren und bereits vom BGH entschiedenen Sachverhalt, in welchem die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten zwar über der 130 %-Grenze liegen, es dem Geschädigten aber – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – gelungen ist, eine nach Auffassung des sachverständig beratenen Gerichts fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, ein Anspruch auf Ersatz der konkret angefallenen Reparaturkosten zusteht.

Nachträglicher Beweis

Interessant für die Praxis dürfte unter Berücksichtigung der Ausführungen des BGH zur erforderlichen Überzeugungsbildung des Gerichts die Frage sein, wie der Geschädigte die vollständige und fachgerechte Reparatur des Fahrzeuges nachträglich beweisen kann. Eine Begleitung der Reparatur durch den vom Geschädigten beauftragen Kfz-Sachverständigen wäre im Ergebnis zwar eine denkbare Variante, dürfte jedoch aufgrund der hierdurch entstehenden Mehrkosten eher nicht im Sinne des Geschädigten sein.

Die im vorliegenden Fall während der Reparatur erstellten Lichtbilder waren offensichtlich nicht in Gänze überzeugend, dürften aber im Ergebnis der vernünftigste und kostengünstigste Weg sein, einen Großteil der Arbeitsschritte zu dokumentieren. Hierzu bedarf es aber in jedem Fall der Unterstützung der Werkstatt, deren mit der Reparatur des Fahrzeuges befassten Mitarbeiter im Rahmen eines Klageverfahrens ergänzend als Zeugen benannt werden könnten. Ob bei diesen aber mehrere Monate nach der Reparatur noch die erforderliche Erinnerung an die bei der Reparatur durchgeführten Arbeitsschritte vorhanden ist, dürfte zu bezweifeln sein.

RA/FA VerkehrsR Markus Schroeder, Velbert

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