1. Die von einem Sachverständigen in seinem Gutachten offenbarte unvollständige Tatsachengrundlage rechtfertigt nicht die Besorgnis der Befangenheit.2. Der Vorwurf mangelnder Sorgfalt bei der Gutachtenerstellung gibt – auch in der Gesamtschau – grundsätzlich keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit des medizinischen Sachverständigen.
(Leitsätze des Gerichts)
OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.8.2021 – 17 W 12/21
I. Sachverhalt
Dem Rechtsstreit liegt ein auf einen gesetzlichen Forderungsübergang gestützter vertraglicher und/oder deliktischer Schadensersatzanspruch der Klägerin als Kranken-(Pflege-)Versicherer der Versicherungsnehmerin, Frau B, zugrunde, §§ 116 Abs. 1 SGB X, 280 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB. Die Klägerin verlangt Zahlung der an die Versicherungsnehmerin verauslagten Behandlungs- und Pflegekosten sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung zukünftiger, auf die gegenständliche Behandlung in der von der Beklagten betriebenen Klinik zurückzuführender Schäden.
In dem Verfahren ist ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Der Sachverständigen erstellte das Gutachten unter Hinweis darauf, dass ihm ein Gutachten des MDK und die Originalkrankenblattunterlagen der Beklagten nicht überlassen worden seien, er sich aber gleichwohl zu einer Bewertung in der Lage sehe. Die Krankenblattunterlagen der Beklagten wurden ihm erst nach Gutachtenerstellung übersandt.
Die Klägerin hat den Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Der Sachverständige habe einseitig zulasten der Klägerin das Gutachten ohne die Krankenblätter und ohne Kenntnis des Inhalts des Gutachtens des MDK und damit ohne erschöpfende Tatsachengrundlage ohne Not erstellt. Mit Blick auf das Gutachten des MDK sei die Bewertung des Sachverständigen abwertend und nicht sachbezogen. Der Facharztmaßstab sei nicht herausgearbeitet und die Bewertung sei oberflächlich bagatellisierend. Es sei nicht zu erwarten, dass sich der Sachverständige angesichts dessen einer Neubewertung gegenüber unvoreingenommen verhalten werde.
Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Der Sachverständige habe die Beweisthemen behandelt und sich nicht einseitig zulasten der Klägerin positioniert sowie seine Bewertungsgrundlage offengelegt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim OLG keinen Erfolg hatte.
II. Entscheidung
Ein Sachverständiger könne abgelehnt werden, wenn hinreichende Gründe vorliegen, die vom Standpunkt einer vernünftigen Partei aus geeignet sind, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu wecken. Es sei unerheblich, ob der gerichtlich beauftragte Sachverständige tatsächlich parteilich ist oder ob das Gericht etwa Zweifel an dessen Unparteilichkeit hegt. Es sei allein maßgeblich, ob für die das Ablehnungsgesuch stellende Partei der Anschein einer nicht vollständigen Unvoreingenommenheit und Objektivität besteht (vgl. nur BGH, Beschl. v. 23.10.2007 – X ZR 100/05), wobei mehrere Gründe, die für sich genommen eine Besorgnis der Befangenheit nicht zu rechtfertigen vermögen, in ihrer Gesamtheit die notwendige Überzeugung vermitteln können (vgl. OLG München, Beschl. v. 4.7.2005 – 1 W 1010/05, VersR 2006, 1709; Huber: Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl., § 406 ZPO Rn 4).
In diesem Zusammenhang können – so das OLG – Negativäußerungen über eine Prozesspartei die Voreingenommenheit begründen (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.1981 – IVa ZR 108/80, NJW 1981, 2009); ebenso können einzelfallbezogen das Überschreiten des Gutachtenauftrags oder eine parteilastige Beweiswürdigung und das Nichtoffenbaren herangezogener Beweisunterlagen zu einer Voreingenommenheit beitragen (vgl. i. e. Scheuch in: BeckOK ZPO, Stand 1.3.2021, § 406 ZPO Rn 24.2 f. m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegen nach Auffassung des OLG für die Klägerin in der Person des Sachverständigen keine Gründe vor, die Anlass zur Besorgnis der Befangenheit geben. Soweit der Sachverständige unter Verweis auf das ihm nicht vorliegende und damit aus der Klageschrift hergeleitete Gutachten des MDK die dort angesprochenen zehn Behandlungsfehler mit einem “(!)“ versehen habe, habe es sich um eine wertneutrale Einfügung gehandelt, die offensichtlich der Tatsache geschuldet sei, dass er keinen Zugriff auf das Gutachten des MDK hatte und sich damit zu einer eigenständigen Bewertung dieser privatgutachterlichen Stellungnahme nicht in der Lage sah. Eine unangemessene Abwertung der Behauptungen der Klägerin oder gar der Bewertung des Gutachters des medizinischen Dienstes seien damit bei sachgerechter Betrachtung nicht einher gegangen.
Der Verweis des Sachverständigen auf eine „ex post“ – Betrachtung durch den MDK begegne bei sachgerechter Einordnung ebenfalls keinen Bedenken, weil selbstredend die gutachterliche Bewertung – sei es durch den vom Gericht oder von den Parteien bestellten Sachverständigen – immer nur ex post erfolgen könne; freilich unter Heranziehung der dem medizinischen Behandler zum Zeitpunkt der Diagnoseerstellung, der Aufklärung und des Eingriffs zur Verfügung stehenden Erkenntnisse, worauf der Sachverständige mit Blick auf die differentialdiagnostische Betrachtung zutreffend hingewiesen habe.
Soweit die Klägerin den Gutachteninhalt als oberflächlich bagatellisierend begreife, weil der Sachverständige die Befundtatsachen nicht erschöpfend herangezogen und den Maßstab für eine Behandlung lege artis nicht herausgearbeitet habe, so dass das Gutachten (jedenfalls in der Gesamtbetrachtung) nicht verwertbar sei und nicht erwartet werden könne, der Sachverständige werde einer Neubewertung offen begegnen, vermögen diese Umstände die Besorgnis der Befangenheit auch in einer Gesamtschau nicht zu begründen. Die Besorgnis der Befangenheit werde mit Blick darauf auf Umstände gestützt, die ihre Ursache in einer Auseinandersetzung mit dem sachlichen Inhalt des Gutachtens haben. Der Mangel an Sachkunde, Unzulänglichkeiten oder Fehler könnten das Gutachten entwerten, rechtfertigen für sich genommen indessen nicht die Besorgnis der Befangenheit bei der Klägerin. Wenn die Klägerin moniere, der Sachverständige habe das Gutachten erstellt, ohne dass ihm die Originale der Krankenblattunterlagen der Beklagten und der Inhalt des Gutachtens des MDK vorgelegen hätten und er habe damit die Tatsachen nicht ausreichend erfasst, so dass er von einem unrichtigen, jedenfalls nicht vollständigen Sachverhalt ausgegangen sei, werfe die Klägerin dem Sachverständigen eine unzureichende Sorgfalt bei der Begutachtung vor. Dieser Vorwurf könne aber vorliegend nicht die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, weil er nicht die Unparteilichkeit des Sachverständigen betreffe (vgl. BGH, Beschl. v. 15.3.2005 – VI ZB 74/04, NJW 2005, 1869). Dem damit erhobenen Vorwurf der mangelnden Sorgfalt sähen sich nämlich beide Prozessparteien in gleicher Weise ausgesetzt. Sowohl dem Gericht als auch den Parteien werde mittels der mündlichen Erläuterung des Gutachtens gemäß § 411 Abs. 3 ZPO oder der Neubegutachtung gemäß § 412 ZPO die Möglichkeit eröffnet, etwaige Mängel in dem Gutachten zu beseitigen und auf ein Gutachten hinzuwirken, das als Entscheidungsgrundlage dienen kann (vgl. BGH, a.a.O.).
Der Sachverständige habe im Übrigen beide Parteien und das Gericht nicht darüber im Unklaren gelassen, dass ihm sowohl die Krankenblattunterlagen der Beklagten als auch das Gutachten des MDK nicht vorliegen. Er habe seine Tatsachengrundlage eröffnet und nicht etwa nach außen hin eine vollständige Tatsachenbasis vorgespiegelt oder – vice versa – gar Tatsachen verwertet, über die er die Verfahrensbeteiligten in Unkenntnis gelassen habe.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist zwar im Zivilrecht ergangen, die Überlegungen des OLG haben aber auch im Straf- oder Bußgeldverfahren Bedeutung, wenn dort ein Sachverständiger eingeschaltet wird. Auch da wird man allein aus dem Umstand, dass der Sachverständige ein Gutachten erstattet, das mangelhaft sein soll, nicht auf die Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen schließen können. Vielmehr bleibt dann nur, die Entbindung des Sachverständigen zu beantragen oder einen Antrag zu stellen, ein „Obergutachten“ einzuholen.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg