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Weitergehendes Schmerzensgeld nach bereits vorangegangenem Schmerzensgeldurteil?

1. Verlangt der Geschädigte wegen der Chronifizierung seiner unfallbedingten, behandlungsbedürftigen Erkrankung ein weiteres Schmerzensgeld, kann dem die Rechtskraft des vorangegangenen Schmerzensgeldurteils entgegenstehen.

2. Ob sich Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Vorprozess nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen als derart nahe liegend darstellten, dass sie schon dort bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnten, beurteilt sich nicht nach der prozentualen Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Verletzungsfolgen. Entscheidend ist allein die objektive Möglichkeit des Geschädigten, das diesbezügliche Risiko zu diesem Zeitpunkt schmerzensgelderhöhend geltend zu machen.

3. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheint, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur, ohne jegliche konkrete Anhaltspunkte ist, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehlt es an der objektiven Möglichkeit im vorgenannten Sinne.

4. Ist die Behandlung der unfallbedingten Verletzung noch nicht abgeschlossen und lässt sich – wie regelmäßig – der Behandlungserfolg nicht sicher vorhersagen, besteht für den Geschädigten bei Erhebung seiner Schmerzensgeldklage die Gelegenheit wie auch der Anlass, entweder einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld wegen des fortbestehenden Risikos geltend zu machen oder aber sich auf eine offene Teilklage zu beschränken, mit der die mögliche, aber noch nicht eingetretene Schadensfolge aus der Schmerzensgeldbemessung herausgenommen wird.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.4.2021 – 1 U 152/20

I. Sachverhalt

Die Klägerin begehrt von der Beklagtenseite die Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes wegen einer psychischen Erkrankung, die sie auf einen tödlichen Verkehrsunfall ihres Ehemannes vom 9.9.2003 zurückführt, bei welchem dieser durch einen Lkw der Beklagtenseite überrollt worden war. Die alleinige Unfallverantwortlichkeit der Beklagtenseite steht nicht in Streit. In einem Rechtsstreit vor dem Landgericht Duisburg wurde der Klägerin auf Grundlage eines vom Gericht eingeholten psychiatrischen Gutachtens ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 EUR zugesprochen. Die Sachverständige diagnostizierte eine Anpassungsstörung im Sinne einer abnormen prolongierten Trauerreaktion. Zudem wurden in dem Gutachten auch Suizidgedanken der Klägerin behandelt, die etwa bis zum Jahr 2007 bestanden hatten, jedoch zum Zeitpunkt der Exploration nach Einschätzung der Sachverständigen glaubhaft verneint wurden. Die Beklagte wurde zudem verpflichtet, der Klägerin jeden weiteren über den ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag hinausgehenden Schaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen.

Ab November 2007 befand sich die Klägerin in psychotherapeutischer Behandlung, brach diese jedoch mangels Besserung ihres Zustandes im Jahr 2013 ab, um sich sodann im Jahr 2017 erneut in entsprechende Behandlung zu begeben. Die Klägerin hatte im Verfahren behauptet, sie leide weiterhin unter der im Vorprozess festgestellten traumatischen verlustbezogenen Trauer in Form einer Anpassungsstörung und dieser Zustand sei nunmehr entsprechend den Ausführungen der Therapeutin M. von dauerhafter Natur. Zusätzlich seien die Krankheitssymptome jetzt mit suizidalen Tendenzen durchsetzt, was aus ihrer Sicht ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 30.000,00 EUR rechtfertige. Unter Verweis auf die Rechtskraft des Urteils aus dem o.g. Verfahren vor dem Landgericht Duisburg wurde die Klage erstinstanzlich als unzulässig abgewiesen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung – im Ergebnis jedoch ohne Erfolg.

II. Entscheidung

Die entscheidungserhebliche Grundlage für die streitgegenständliche Entscheidung sei nach Auffassung des OLG der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes. Dieser gebiete es, die Höhe des Schmerzensgeldes aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen. Beim uneingeschränkten Antrag auf Schmerzensgeld seien alle diejenigen Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar gewesen seien oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung habe berücksichtigt werden können.

Nicht umfasst vom Antrag und daher auch mögliche Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld und Gegenstand eines Feststellungsantrags seien lediglich solche Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten seien. Ebenfalls nicht umfasst seien Verletzungsfolgen, deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar gewesen sei. Abzustellen sei somit gerade nicht auf die subjektive Sicht der Parteien oder auf die Vollständigkeit der Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht. Maßgebend sei vielmehr, ob ein mit der Beurteilung des Ausmaßes und der voraussichtlichen weiteren Entwicklung eines Schadens beauftragter Sachverständiger an die Verletzungsfolgen nicht habe denken müssen, diese aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit schließlich doch eingetreten seien. Nur dann blieben diese Verletzungsfolgen bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt.

Unter Berücksichtigung der oben dargestellten Grundsätze sei die Entwicklung zu dem aktuellen Gesundheitszustand der Klägerin nach Auffassung des OLG bereits im Vorprozess objektiv vorhersehbar gewesen und als Möglichkeit sogar konkret vorhergesehen worden. So leide die Klägerin weiterhin im Wesentlichen unter derselben Erkrankung wie im Vorprozess, wobei ein Behandlungserfolg nicht zu erwarten gewesen sei. Bei behandlungsbedürftigen Zuständen sei im Rahmen einer Prognose der zukünftigen Entwicklung grundsätzlich die Möglichkeit eines Fehlschlagens der Therapie oder einer Chronifizierung zu berücksichtigen, da der sichere Eintritt eines Behandlungserfolgs aus vielfältigen Gründen nicht unterstellt werden könne.

Zudem habe der im Vorprozess tätige Sachverständige mehrfach hervorgehoben, dass die Besserung des Zustands der Klägerin an eine erfolgreiche Therapie geknüpft sei, womit der Sachverständige inzident verdeutlicht habe, dass die Therapie auch scheitern und der Behandlungserfolg ausbleiben könne. Die Klägerin habe daher Gelegenheit wie auch Anlass gehabt, entweder einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld wegen des fortbestehenden Risikos der Chronifizierung geltend zu machen oder aber sich auf eine offene Teilklage zu beschränken, mit der die mögliche, aber noch nicht eingetretene Schadensfolge (Chronifizierung) aus der Schmerzensgeldbemessung herausgenommen worden wäre.

Abschließend betont das OLG noch einmal, dass allein die konkrete Möglichkeit, eine bestimmte Verletzungsfolge im Rahmen der Schmerzensgeldforderung zu berücksichtigen, maßgebend sei und auch dann, wenn nach den Erkenntnismöglichkeiten eines Sachkundigen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Verletzungsfolge spreche, der Geschädigte grundsätzlich in die Lage versetzt werde, seine Schmerzensgeldforderung zu beschränken und eine weitere Klage zu erheben, sobald die Folge eingetreten sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Schmerzensgeldklagen gehören zum täglichen Brot des im Verkehrsrecht tätigen Rechtsanwalts. Umso wichtiger ist die Kenntnis des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes. Die Entscheidung des OLG verdeutlich noch einmal, dass bei einer rechtskräftigen Entscheidung über einen uneingeschränkten Antrag auf Schmerzensgeld bei zumindest objektiv möglichen Verschlechterungen des Gesundheitszustands eine Abweisung der Klage wegen entgegenstehender Rechtskraft des Ersturteils droht. Liegt bereits eine rechtskräftige Schmerzensgeldentscheidung vor und kommt es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes dürfte es sich daher empfehlen, zunächst aus medizinischer Sicht prüfen zu lassen, ob die Verschlechterung im Vorprozess objektiv vorhersehbar war.

Einen weiteren Tipp für die anwaltliche Praxis gibt das OLG selbst, in dem es auf die Möglichkeit der Geltendmachung eines Aufschlags auf das Schmerzensgeld oder die Erhebung einer offenen Teilklage im Erstprozess hinweist. Dieser Tipp kam für die Klägerin im vorliegenden Fall jedoch zu spät.

RA und FA für VerkehrsR Markus Schroeder, Velbert

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