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Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung

Das Fehlen von Rohmessdaten führt jedenfalls im Verwaltungsverfahren (Fahrtenbuchauflage) nicht zur Unverwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung.

(Leitsatz des Verfassers)

OVG NRW, Beschl. v. 4.1.2021 – 8 B 1781/20

I. Sachverhalt

Mit dem auf den Antragsteller zugelassenen Fahrzeug sollen zwei Geschwindigkeitsverstöße begangen worden sein, nämlich eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 28 km/h beim ersten und um 25 km/h beim zweiten Verstoß. Die Messung erfolgte mittels des Gerätes Poliscan M1 HP. Die Behörde hat gegen den Antragsteller eine Fahrtenbuchauflage angeordnet (§ 31a StVZO) und deren sofortige Vollziehung angeordnet (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). Mit seinem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO macht der Antragsteller u.a. geltend, die Behörde sei nicht berechtigt gewesen, die Ergebnisse der Geschwindigkeitsmessung ungeprüft als zutreffend zu unterstellen. Der Antrag ist beim Verwaltungsgericht Köln ohne Erfolg geblieben.

II. Entscheidung

Das OVG hat auch die dagegen gerichtete Beschwerde zurückgewiesen.

Der VerfGH des Saarlandes hat bekanntlich in seinem Urt. v. 5.7.2019 – Lv 7/17, VRR 7/2019, 3, entschieden, dass kein faires Verfahren vorliegt, wenn es bei Geschwindigkeitsmessungen mittels standardisierter Messverfahren an Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang fehlt und der Betroffene dies rügt.

Das OVG NRW wiederholt insoweit zunächst, dass das VG durch den Untersuchungsgrundsatz nicht verpflichtet wird, ohne konkreten Anlass „ins Blaue hinein“ das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung zu hinterfragen. Das ist allerdings auch nicht Gegenstand der Beschwerde und des Urteils des VerfGH des Saarlandes. Sodann erkennt das OVG NRW – entsprechend dem aktuellen Beschluss des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 ff. – an, dass eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren vorliegen kann, wenn dem Betroffenen der Zugang zu außerhalb der Bußgeldakten vorhandenen Messdaten versagt wird.

Das Fehlen von Rohmessdaten (wie hier) wirke sich aber nicht schon für sich genommen auf die Verwertbarkeit des Messergebnisses aus (entgegen dem OVG Saarland, Beschl. v. 30.3.2020 – 1 B 15/20 und v. 7.10.2020 – 1 B 272/20), sondern „allenfalls dann, wenn diese Informationen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen“. Das sei hier nicht der Fall, da der Antragsteller keine „Umstände vorbringe, die auf eine Fehlerhaftigkeit der Messergebnisse hindeuten könnten.“

III. Bedeutung für die Praxis

Das OVG bezieht sich in seinem Beschluss auf die Ausführungen des BVerfG in seinem Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, wonach das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen „nicht unbegrenzt“ gelte. Die begehrten Informationen müssten in „einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang“ mit dem Vorwurf stehen und „erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung“ aufweisen (a.a.O., Rn 56 f.). Die sich daran anschließende, viel bedeutsamere Aussage des BVerfG unterschlägt das OVG hingegen. Denn nach dem BVerfG darf die Verteidigung gerade „grundsätzlich auch jeder bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen“ und kommt es nicht darauf an, „ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehenden Informationen zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet“ (a.a.O., Rn 57). Danach wird der Betroffene zur Verwirklichung des Einsichtsrechts gerade nicht darlegen müssen, inwiefern ein vom Betroffenen zu beauftragender Sachverständiger Erkenntnisse zur Richtigkeit der Messung etwa aus den zur Verfügung zu stellenden Rohmessdaten gewinnen kann und wird. Das bleibt dem Betroffenen, dessen Rechtsanwalt und dem von ihm ggf. beauftragten Sachverständigen vorbehalten. Gerade die Rohmessdaten waren Gegenstand der Entscheidung des BVerfG (a.a.O., Rn 3) und das BVerfG hat die Nichtgewährung des Zugangs zu diesen Informationen gerade nicht von seinen Ausführungen zum bestehenden Einsichtsrecht ausgenommen. Das BVerfG geht daher erkennbar davon aus, dass hinsichtlich dieser Informationen die von ihm formulierten Grenzen des Einsichtsrechts gerade gewahrt sind. Der Beschluss des OVG NRW erscheint daher als Verkürzung der Aussagen des BVerfG und vermag bereits aus diesem Grund nicht zu überzeugen.

Darüber hinaus hat sich das BVerfG indes ohnehin nicht zu der weiterhin umstrittenen Frage geäußert, ob das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch dann verletzt wird, wenn die Rohmessdaten von dem zur Anwendung gelangten Messgerät von vornherein nicht gespeichert werden. In diesen Fällen würde das Einsichtsrecht des Betroffenen hinsichtlich dieser Daten leerlaufen, denn in etwas nicht Vorhandenes kann Einsicht nicht gewährt werden.

Der VerfGH Saarland hat in seinem Urt. v. 5.7.2019 insoweit u.a. die berechtigte Frage aufgeworfen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Bürger in Zeiten absehbar weiter zunehmender Digitalisierung gehalten ist, die für ihn mit gravierenden Rechtsfolgen verbundenen Ergebnisse der Verwendung automatisierter Verfahren hinzunehmen, ohne ihr Zustandekommen überprüfen zu können. In der Sache dürfte vieles für die Rechtsauffassung des VerfGH des Saarlandes sprechen (vgl. Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 236 ff.) – entgegen der bisher einhelligen Rspr. der Oberlandesgerichte, die jedoch der Argumentation des VerfGH, abgesehen von der Feststellung, dass andere Oberlandesgerichte dies auch so sehen, inhaltlich zumeist wenig entgegenzusetzen haben (vgl. dazu Niehaus VRR 2/2020, 25 ff.). Denn wenn der Betroffene im Rechtsstaat nicht verpflichtet ist, das Ergebnis einer Messung hinzunehmen, ohne eigeninitiativ die Richtigkeit der Messung überprüfen zu können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18), dann liegt es nahe, dass die Verfolgungsbehörden dieses Recht nicht unterlaufen dürfen, indem sie sich Messverfahren bedienen, die eine solche Überprüfung einschränken, indem sie für die Überprüfung erforderliche Daten (nach der maßgeblichen Sichtweise der Verteidigung, s.o.) von vornherein nicht speichern, obwohl dies technisch möglich wäre.

Statt einer Auseinandersetzung mit der Argumentation des VerfGH des Saarlandes fällt das OVG NRW letztlich auf das „Argument“ zurück, dass der Betroffene hier keine Umstände vorgetragen habe, die auf eine Fehlerhaftigkeit der Messergebnisse hindeuten könnten. Das ist die klassische „Teufelskreis“-Argumentation (vgl. dazu OLG Jena NJW 2016, 1457). Verfahrensgegenständlich ist gerade die Frage, welchen Anforderungen das Messverfahren genügen muss, um den Betroffenen – unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen – überhaupt erst in die Lage zu versetzen, Zweifel an der Richtigkeit der Messung eigeninitiativ zu ermitteln und sodann dem Gericht vorzutragen (vgl. BVerfG, a.a.O, Rn 46, 50 f.). Zu dieser eigentlich zu entscheidenden Frage dringt das OVG NRW letztlich nicht vor.

In der weiterhin umstrittenen Frage der Verwertbarkeit von Messungen, bei denen die Rohmessdaten nicht gespeichert werden, wird letztlich nur eine Vorlage an den BGH (vgl. auch VerfGH Rheinland-Pfalz, Urt. v. 15.1.2010 – VGH B 19/19 und VerfGH Baden-Württemberg, Urt. v. 14.12.2020 – 1 VB 64/17) oder aber eine erneute Entscheidung des BVerfG eine Klärung herbeiführen können. Der 58. Verkehrsgerichtstag empfiehlt in seinem Arbeitskreis IV darüber hinaus, die „Anforderungen an das standardisierte Messverfahren sowie das umfassende Einsichtsrecht in alle Daten und Messunterlagen zu kodifizieren“.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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