1. Zur Fristwahrung durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments.
2. Zum Grundsatz der Subsidiarität im Rechtsbeschwerdeverfahren.
(Leitsatz des Gerichts)
BGH,Beschl. v.25.8.2020–VI ZB 79/19
I. Sachverhalt
Der Kläger nimmt den beklagten Fahrzeughersteller auf Schadensersatz wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung in Anspruch. Das LG hat die Klage mit Urt. v. 21.6.2019 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers über das beA fristgerecht Berufung eingelegt und diese begründet. Die im Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des OLG fristgerecht eingegangene und auf dem für den Empfang bestimmten Server aufgezeichnete Berufungsbegründung ist nicht ausgedruckt worden.
Nachdem die Vorsitzende des Berufungssenats mit dem Kläger am 13.9.2019 zugestellter Verfügung darauf hingewiesen hatte, dass die Frist zur Berufungsbegründung abgelaufen sei, ohne dass eine Begründung eingegangen sei, hat das OLG die Berufung mit Beschl. v. 11.10.2019 – dem Kläger zugestellt am 18.10.2019 – als unzulässig verworfen. Mit am 16.10.2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Vorlage eines Screenshots der vom EGVP automatisch erstellten Eingangsbestätigung darauf hingewiesen, dass sie die Berufungsbegründung fristgerecht über das beA eingereicht habe. Der Berufungsbegründungsschriftsatz wurde daraufhin auf dem Server aufgefunden und manuell ausgedruckt. Die Rechtsbeschwerde des Klägers hatte beim BGH Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des BGH verletzt der Verwerfungsbeschluss des OLG den Kläger jedenfalls in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten auf ein faires Verfahren und Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes. Beide Rechte seien den Parteien eines Zivilrechtsstreits durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantiert. Die Gerichte dürfen danach aus eigenen oder ihnen zurechenbaren Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen für die Beteiligten keine Verfahrensnachteile ableiten. Allgemein sind sie zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Außerdem dürfen sie den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 110, 339; BVerfG NJW-RR 2008, 446). Mit diesen Anforderungen sei die angefochtene Entscheidung nicht vereinbar.
Das Berufungsgericht habe – so der BGH – die Berufung des Klägers mangels Begründung als unzulässig verworfen, obwohl die Berufungsbegründung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht eingegangen sei. Der Kläger habe den Begründungschriftsatz als elektronisches Dokument über das besondere elektronische Anwaltspostfach an das EGVP des Berufungsgerichts übermittelt; das Dokument sei auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts gespeichert worden. Dies habe zur Fristwahrung genügt (§ 130a Abs. 5 Satz 1 ZPO; vgl. BGH, Beschl. v. 14.5.2020 – X ZR 119/18;BacherNJW 2015, 2753, 2756). Der Umstand, dass das elektronische Dokument weder von einem Client-Rechner des Berufungsgerichts abgeholt noch ausgedruckt worden sei, sei in diesem Zusammenhang unerheblich. Hierbei handele es sich um gerichtsinterne Vorgänge, die für den Zeitpunkt des Eingangs des Dokuments nicht von Bedeutung seien (vgl. BGH, a.a.O.; Beschl. v. 28.5.2020 – I ZR 214/19;Bacher, a.a.O.). Aus dem gerichtsinternen Versäumnis, die Berufungsbegründung beim Eingangsserver abzuholen, dürften für den Kläger keine Verfahrensnachteile resultieren.
Dieser Beurteilung stehe entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung nicht der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Solle der Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz darin liegen, dass eine Partei auf einen Hinweis nicht rechtzeitig reagiert habe, könne diese einschneidende Folge nur dann gerechtfertigt werden, wenn der Partei vom Gericht eine Frist gesetzt worden oder so viel Zeit seit dem Hinweis verstrichen sei, dass – ggf. auch unter Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände – mit einer Stellungnahme nicht mehr gerechnet werden könne. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Man fragt sich, warum eigentlich, wenn denn schon der elektronische Rechtsverkehr zugelassen ist, ein Gericht nicht mal im EGVP nachschaut, ob ggf. eine Berufungsbegründung eingegangen ist oder warum diese nach Eingang nicht automatisch ausgedruckt und vorgelegt wird.
2. Im Übrigen: Man merkt an den sich mehrenden – auch obergerichtlichen – Entscheidungen, dass das beA in der Praxis angekommen zu sein scheint. Dafür sprechen auch die vom BGH in seinem Beschluss zitierten Entscheidungen, die auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung liegen. Der Rechtsanwalt wird diese Rechtsprechung im Blick haben (müssen). Und: Er sollte auch – schon um dem Einwand der Subsidiarität zu entgehen – auf gerichtliche Hinweise zeitnah reagieren, auch wenn – wie hier – keine Frist gesetzt worden ist.
RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg