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Straßenverkehrsgefährdung auf der BAB

Eine konkrete Gefahr i.S.d. § 315c StGB liegt regelmäßig nicht vor, wenn es einem Verkehrsteilnehmer noch möglich ist, einen Unfall durch ein im Bereich einer verkehrsüblichen Reaktion liegendes Brems- oder Ausweichmanöver abzuwenden.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Celle, Beschl. v. 16.2.2021 – 3 Ss 6/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Angeklagte, wobei das Urteil weder den Tag noch die Uhrzeit mitteilt, die Autobahn A7 in Richtung Hannover auf Höhe des Kilometers 80 auf dem linken Fahrstreifen. Vor ihm fuhr das Fahrzeug des Zeugen W ebenfalls auf dem linken Fahrstreifen, wobei der Angeklagte sehr dicht auf das Fahrzeug des Zeugen W auffuhr. Als sich dem Angeklagten auf dem rechten Fahrstreifen zwischen zwei Lkws eine Lücke bot, scherte dieser nach rechts aus, um den Zeugen W zu überholen. Der Abstand zu dem vorausfahrenden Lkw stellte sich jedoch als zu gering heraus, so dass der Angeklagte sein Fahrzeug früher als geplant wieder auf den linken Fahrstreifen steuern musste, um eine Kollision mit dem Lkw zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Fahrzeuge des Angeklagten sowie des Zeugen W etwa auf gleicher Höhe. Der Zeuge W konnte einen Zusammenstoß dadurch verhindern, dass er starke Bremsung und zugleich ein Ausweichmanöver durchführte. Im Verlauf dieses Fahrmanövers betrug der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen zeitweise nur etwa 15 cm. Aufgrund dieses Ereignisses erschrak die zu diesem Zeitpunkt auf dem Beifahrersitz des Zeugen W befindliche Zeugin N derart, dass sie zunächst aus Angst vor einem Unfall schrie und sodann zu weinen und zu zittern begann, wobei das Zittern über einen Zeitraum von mehr als zwei Stunden anhielt. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Das OLG hat die getroffenen Feststellungen als lückenhaft beanstandet. Zwar sei es zunächst nicht zu beanstanden, dass das AG aufgrund der getroffenen Feststellungen von einem grob verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten ausgegangen sei. Ein rücksichtsloses Handeln i.S.v. § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB gehe aus den Feststellungen des AG indessen ebenso wenig hervor wie das Vorliegen einer konkreten Gefahr.

Erforderlich für das Vorliegen einer konkreten Gefahr sei nach gefestigter Rechtsprechung die Feststellung einer auf Tatsachen gegründeten nahe liegenden Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses, bei der nach Würdigung aller konkret erheblichen Umstände im Rahmen einer objektiven nachträglichen Prognose im Sinne einer Ex-ante-Beurteilung der Eintritt eines substantiellen Schadens in so bedrohliche Nähe gerückt sein muss, dass seine Vermeidung sich nur noch als Zufall darstellt (vgl. nur Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 315c Rn 15a m.w.N.). Dies lasse sich dem Urteil des AG nicht hinreichend entnehmen. Allein die Feststellung, dass es zu einem Unfall gekommen wäre, wenn der Zeuge W nicht stark abgebremst und dem Fahrzeug des Angeklagten ausgewichen wäre, sei hierfür nicht ausreichend. Denn eine konkrete Gefahr liege regelmäßig nicht vor, wenn es einem Verkehrsteilnehmer noch möglich ist, einen Unfall durch ein im Bereich einer verkehrsüblichen Reaktion liegendes Brems- oder Ausweichmanöver abzuwenden (vgl. BGH StV 2018, 429 [Ls.]). Es sei dem Zeugen W nach den Feststellungen ersichtlich möglich gewesen, dem Fahrzeug des Angeklagten durch ein reaktionsschnelles Fahrmanöver auszuweichen. Das Vorliegen einer konkreten Gefahr sei vielmehr anhand objektiver Kriterien, wie z.B. der Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge, des Abstandes zwischen ihnen sowie auch der Beschaffenheit der Fahrzeuge selbst und ggf. bestehender Ausweichmöglichkeiten zu ermitteln. Nicht ausreichend seien insoweit lediglich wertende Umschreibungen wie etwa ein „scharfes“ Abbremsen oder Ausweichen.

Diesen Anforderungen werde das Urteil nicht gerecht. Es stelle im Wesentlichen nur auf ein dichtes Auffahren sowie auf einen Fahrstreifenwechsel des Angeklagten ab, durch welchen der Zeuge W zu einem starken Abbremsen sowie zu einem Ausweichen gezwungen wurde, jedoch nicht auf notwendige weitere Umstände, um eine strafbare Straßenverkehrsgefährdung anzunehmen. Soweit ein Beinahe-Unfall offenbar in dem – verkehrswidrigen – Rechtsüberholen des Angeklagten liegen könnte, fehle es an jeglichen Feststellungen zur Verkehrssituation und zur subjektiven Tatseite. Bereits die Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge werde nicht mitgeteilt. So bleibe anhand der getroffenen Feststellungen bereits offen, ob sich das Geschehen bei hoher, mittlerer oder geringerer Geschwindigkeit oder bei etwaig erhöhtem Verkehrsaufkommen (sog. Kolonnenspringen) zugetragen habe. Auch fehle es an Feststellungen zu den Fahrzeugen der Beteiligten sowie zur Beschaffenheit der Fahrbahn (nass, trocken). Es würden auch keine Umstände mitgeteilt, aus denen sich die gefahrene Geschwindigkeit zuverlässig ableiten ließe. Allein aus dem Auslösen des Antiblockiersystems bei dem Fahrzeug des Zeugen W lasse sich die gefahrene Geschwindigkeit und hiernach die Annahme eines „Beinahe-Unfalls“ nicht herleiten, da, was allgemeinkundig sei, auch bei sehr geringen Geschwindigkeiten bis hin zur Schrittgeschwindigkeit das Antiblockiersystem bei einem entsprechend starken Bremsvorgang ausgelöst werden könne, was nicht zuletzt auch von der Beschaffenheit der Fahrbahn abhängig ist. In Bezug auf das Ausweichmanöver des Zeugen W fehle es an Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten, insbesondere hinsichtlich eines eventuellen Abkommens von der Fahrbahn sowie eines Annäherns an die Mittelleitplanke.

Ein Rückschluss auf die gefahrenen Geschwindigkeiten lasse sich auch nicht daraus herleiten, dass sich den getroffenen Feststellungen zufolge die Fahrzeuge des Angeklagten sowie des Zeugen W zum Zeitpunkt des Vorfalls zumindest teilweise auf dem linken Fahrstreifen befunden haben und der rechte Fahrstreifen zu diesem Zeitpunkt von Lkws befahren wurde, da das AG auch zu der gefahrenen Geschwindigkeit der Lkws keinerlei Feststellungen getroffen habe.

Darüber hinaus fehle es – so das OLG – an Feststellungen zum subjektiven Tatbestand und hierbei insbesondere zum Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit, welches erfordere, dass der Täter sich aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetze oder aus Gleichgültigkeit von vornherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen lasse. Hierbei sei für das Vorliegen der Rücksichtslosigkeit der äußere Tathergang zwar regelmäßig das wichtigste und oftmals auch ausschlaggebende Entscheidungskriterium. Jedoch reiche das äußere Tatgeschehen allein für die Beurteilung der Rücksichtslosigkeit regelmäßig nicht aus. Es komme vielmehr auf die konkrete Verkehrssituation, auch im Vorfeld sowie im Nachgang des Vorfalls, unter Einbeziehung der Vorstellungs- und Motivlage des Angeklagten an (vgl. Fischer, a.a.O., Rn 14a), wobei das AG auch hierzu keine Feststellungen getroffen hat. Dies trifft auch auf die ausweislich des Tenors durch das AG angenommene fahrlässige Verursachung der Gefahr gemäß § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB zu.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Ein Klassiker – die Straßenverkehrsgefährdung und die nicht ausreichenden tatsächlichen Feststellungen beim Tatgericht. Nicht selten treffen nämlich gerade die AG keine oder nicht ausreichende Feststellungen. Das ist dann eine Steilvorlage für den Verteidiger, der dann nicht das Rechtsmittel der Berufung wählen wird mit der Möglichkeit für das Berufungsgericht, dies zu reparieren. Man muss in solchen Fällen Revision einlegen, um so beim Revisionsgericht die Aufhebung zu erreichen und damit ggf. Zeit für den Mandanten zu gewinnen. Das kann von Bedeutung sein, wenn es um die Entziehung der Fahrerlaubnis geht.

2. Was zu beachten ist, wenn die Feststellungen ausreichend sein sollen, zeigt das OLG Celle in seinem Beschluss auf. Es sind nicht nur wenige Umstände, die das Tatgericht feststellen muss, wenn es den hohen Standard, den die Revisionsgerichte für eine Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 315c StGB vorgeben, erfüllen will. Das ist nicht einfach, weil den Revisionsgerichten nur Umschreibungen des Verkehrsgeschehens i.d.R. nicht reichen. Es müssen Tatsachen festgestellt werden, aus denen man dann eine „konkrete Gefahr“ ableiten kann.

3. Im Übrigen: Das Urteil stand auch aus anderen Gründen auf wackligen Füßen, da die Tatzeit nicht festgestellt worden ist. Allein das hätte im Zweifel schon zur Aufhebung geführt.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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