Beitrag

Gewährleistung eines fairen Verfahrens bei Nichtspeicherung von Rohmessdaten

Aus der Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 folgt nicht, dass Messergebnisse nicht verwertet werden dürfen, wenn das verwendete Messgerät Rohmessdaten nicht abspeichert.

(Leitsatz des Verfassers)

AG St. Ingbert, Urt. v. 13.1.2021 – 23 OWi 68 Js 1367/20 (2105/20)

I. Sachverhalt

Dem Betroffenen wurde eine Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 29 km/h (bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h) vorgeworfen. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit dem Gerät der Firma LEIVTEC, XV 3. Bei diesem Gerät werden die sog. Rohmessdaten gelöscht bzw. nicht gespeichert. Die Verteidigung hat insoweit die Auffassung vertreten, dass die Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar sei.

II. Entscheidung

Das AG folgt der Auffassung der Verteidigung nicht und hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt und ein Fahrverbot angeordnet. Aus dem Umstand, dass das Messgerät die sog. Rohmessdaten nicht speichert, folge kein Verwertungsverbot hinsichtlich der Ergebnisse der Messung. Die Entscheidung des VerfGH des Saarlandes v. 5.7.2019 – Lv 7/17, stehe der Verurteilung nicht entgegen. Im Fall der Entscheidung des VerfGH sei ein anderes Messgerät zum Einsatz gekommen (Traffistar S 350). Auch der Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4 ff.), sei nicht zu entnehmen, dass Messergebnisse nicht verwertet werden dürften, wenn das Gerät Rohmessdaten nicht speichere. Außerdem sei eine „sachgerechte Eingrenzung“ des Informationszugangs geboten. Aus einer Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) vom 30.3.2020 ergebe sich aber, dass aus den Daten der gesamten Messreihe „keine brauchbaren Erkenntnisse“ für die gegenständliche Messung herzuleiten seien. Zudem seien „datenschutzrechtliche Belange“ anderer Verkehrsteilnehmer „massiv tangiert“.

III. Bedeutung für die Praxis

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Dazu gehören auch die Rohmessdaten, wie sich schon daraus ergibt, dass dem Fall des BVerfG gerade (auch) ein Antrag auf Zurverfügungstellung von Rohmessdaten zugrunde lag und das BVerfG diese Daten gerade nicht von seinen Ausführungen zum bestehenden Einsichtsrecht ausgenommen hat. Das erkennt das AG St. Ingbert auch (Abschn. III. des Urteils, a.E.).

Das AG (vgl. insoweit auch das Urt. des AG St. Ingbert v. 10.11.2020 (23 OWi 62 Js 1144/20 (2176/20), VRR 1/2021, 21: „Tendenz von… Verteidigerbüros…, Behörden und Gericht zu „überfluten“ mit ausufernden Schriftsätzen und Anträgen“) verschweigt allerdings die Ausführungen des BVerfG, wonach dem Betroffenen in den Fällen der Verwendung standardisierter Messverfahren das Recht, eigenintiativ die Richtigkeit der Messung zu hinterfragen, gerade unabhängig davon zusteht, „ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Informationen für erforderlich erachtet“ (BVerfG, a.a.O., Rn 57). Die Verteidigung kann deshalb „grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen“ (a.a.O., Rn 57). Hingegen obliegt es weder den Gerichten noch sind diese dazu befugt, das Einsichtnahmerecht des Betroffenen mit der Begründung einzuschränken, dass das Gericht (oder gar die PTB) meint, dass der Betroffene der Einsichtnahme in die begehrten Unterlagen und Dateien nicht bedürfe, weil sich daraus – nach Auffassung des Gerichts – nichts Relevantes ergeben werde. Die Ausführungen des AG St. Ingbert dürften daher im Widerspruch zu dem Beschluss des BVerfG stehen. Danach kommt es nicht darauf an, ob das AG der Auffassung ist, dass die Zurverfügungstellung der Daten geeignet ist „eine Messung im Nachhinein zielführend zu überprüfen“ und erst recht kommt es nicht auf die umfangreich wiedergegebene Meinung der PTB an. Welche Daten die Verteidigung benötigt, bestimmt vielmehr die Verteidigung. Die Grenze ist nach der Entscheidung des BVerfG erst dann erreicht, wenn die Daten keine erkennbare Relevanz für die Verteidigung aufweisen und daher der Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs im Raum steht (BVerfG, a.a.O., Rn 56 f.). Das ist nach der Auffassung des BVerfG bei den Rohmessdaten offensichtlich nicht der Fall, wie das AG St. Ingbert selbst zugesteht.

Die Entscheidung des BVerfG enthält (da ein solcher Fall nicht vorlag) keine Ausführungen zu der weiteren umstrittenen Frage, ob das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch dann verletzt wird, wenn die Rohmessdaten von dem zur Anwendung gelangten Messgerät von vornherein nicht gespeichert werden. In diesen Fällen würde daher das Einsichtsrecht des Betroffenen hinsichtlich dieser Daten leerlaufen, denn in etwas nicht Vorhandenes kann Einsicht nicht gewährt werden.

Der VerfGH des Saarlandes hat in seinem Urt. v. 5.7.2019 – Lv 7/17 (VRR 8/2019, 11) einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren in diesen Fällen angenommen, weil der Betroffene ansonsten das Messergebnis „auf Gedeih und Verderb“ hinnehmen müsste, ohne es überprüfen zu können. Das sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Die Folge wäre ein Verwertungsverbot hinsichtlich des Messergebnisses.

Das AG St. Ingbert setzt sich über diese Rechtsprechung mit der Bemerkung hinweg, das Urteil des VerfGH stehe einer Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes, der durch ein anderes Messgerät festgestellt wird, nicht entgegen (Abschn. II des Urteils). Weshalb es sich indes so verhalten sollte, erschließt sich nicht.

In der Sache dürfte vieles für die Rechtsauffassung des VerfGH des Saarlandes sprechen (vgl. Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 236 ff. „Akteneinsicht, Umfang, Messunterlagen, Bedienungsanleitung u.a.“) – entgegen der bisher einhelligen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, die jedoch der Argumentation des VerfGH, abgesehen von der Feststellung, dass andere Oberlandesgerichte dies auch so sehen, inhaltlich zumeist wenig entgegenzusetzen haben (vgl. dazu Niehaus VRR 2/2020, 25 ff.). Denn wenn der Betroffene im Rechtsstaat nicht verpflichtet ist, das Ergebnis einer Messung hinzunehmen, ohne eigeninitiativ die Richtigkeit der Messung überprüfen zu können (BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18), dann werden die Verfolgungsbehörden dieses Recht nicht unterlaufen dürfen, indem sie sich Messverfahren bedienen, die eine solche Überprüfung einschränken, indem sie für die Überprüfung erforderliche Daten (nach der maßgeblichen Sichtweise der Verteidigung, s.o.) von vornherein nicht speichern, obwohl dies technisch möglich wäre.

Ob die Ergebnisse einer Messung unverwertbar sind, wenn das verwendete Gerät die Rohmessdaten nicht speichert und deshalb die Überprüfung der Richtigkeit der Messung durch den Betroffenen und seinen Verteidiger eingeschränkt sein könnte, ist weiterhin umstritten. Insoweit wird es absehbar einer weiteren Entscheidung des BVerfG bedürfen, nachdem gegenwärtig nicht ersichtlich ist, dass es zu einer Divergenzvorlage zum BGH kommen wird.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…