1. Die Bewertung der Eigengefährdung durch den Täter kann abhängig von seinem Vorstellungsbild über mögliche Tathergänge abgestuft sein; so kann er bei Fassen des Tatentschlusses einen bestimmten gefahrbegründenden Sachverhalt hinnehmen, während er auf das Ausbleiben eines anderen, für ihn mit höherem Risiko verbundenen Geschehensablaufs vertraut.
2. Für die Prüfung, ob ein Unfallgeschehen mit tödlichen Folgen vom bedingten Vorsatz des Täters umfasst war, kommt es daher darauf an, ob er den konkreten Geschehensablauf als möglich erkannt und die damit einhergehende Eigengefahr hingenommen hat. Ist dies der Fall und verwirklicht sich dieses Geschehen, ist es für die Prüfung der Vorsatzfrage unerheblich, ob er weitere Geschehensabläufe, die aus seiner Sicht mit einer höheren und deshalb von ihm nicht gebilligten Eigengefahr verbunden waren, ebenfalls für möglich erachtet hat.
(Leitsätze des Gerichts)
BGH,Urt. v.18.6.2020–4 StR 482/19
I. Sachverhalt
In dem als „Kudamm-Raser-Fall“ bekannt gewordenen Verfahren hatte das LG die beiden Angeklagten wegen mittäterschaftlich begangenen Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung u.a. jeweils zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Entscheidung hob der BGH mit Urt. v. 1.3.2018 (4 StR 399/17) auf und verwies die Sache an das LG zurück.
In der „zweiten Runde“ wurden die Angeklagten jeweils wegen Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs erneut zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den wesentlichen Feststellungen der Strafkammer hatten sich die beiden Angeklagten spontan zu einem Autorennen über eine rund 1,6 km lange Strecke entschlossen. Nachdem sie mit weit überhöhter Geschwindigkeit eine Kurve durchfahren hätten, seien die Angeklagten, zunächst der Angeklagte N, dann der Angeklagte H, in eine gerade verlaufende Straße eingefahren. Dabei hätten beide Angeklagte wahrgenommen, dass die Ampelanlage an einer in etwa 250 m entfernt liegenden Kreuzung, dem späteren Unfallort, für ihre Fahrtrichtung Rot zeigte. Einsicht in die von rechts einmündende Straße hätten die Angeklagten wegen der baulichen Gegebenheiten nicht gehabt.
Dem – wie stets – nicht angeschnallten Angeklagten H sei bewusst gewesen, dass er jetzt maximal beschleunigen und das Risiko abermals steigern musste, um den Angeklagten H überholen zu können und das Rennen noch zu gewinnen. Er habe deshalb Vollgas gegeben und beschlossen, die vor ihm liegende Kreuzung auch bei roter Ampel zu durchfahren. Dabei sei ihm bewusst gewesen, dass trotz der Nachtzeit noch Autoverkehr herrschte und er von rechts querende Fahrzeuge erst zu einem Zeitpunkt würde wahrnehmen können, zu dem er keine Möglichkeit einer kollisionsverhindernden Reaktion mehr hätte. Dies habe der Angeklagte H jedoch in Kauf genommen, um das Rennen zu gewinnen und das von einem Sieg ausgehende Gefühl der Überlegenheit und Selbstwertsteigerung zu verspüren. Für sich selbst, den Angeklagten N und dessen Beifahrerin habe er dagegen u.a. aufgrund der modernen Sicherheitsausstattung der beiden Fahrzeuge nicht mit Gefahren gerechnet.
Der Angeklagte N habe erkannt, dass der Angeklagte H das Rennen unter allen Umständen gewinnen wollte und ebenfalls Vollgas gegeben. Etwa 90 Meter vom späteren Kollisionsort entfernt habe er den Fuß kurz vom Gaspedal genommen, weil er die sich abzeichnende Gefahr einer Kollision mit Querverkehr erkannt habe. Dann habe er jedoch, so die Feststellungen des LG, auch unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen der Insassen querender Fahrzeuge das Gaspedal wieder durchgetreten.
Beide Angeklagte seien dann bei weiterhin rot anzeigender Ampel nahezu gleichzeitig in die Kreuzung eingefahren. Dort sei das Fahrzeug des Angeklagten H ungebremst in einer Geschwindigkeit von 160–170 km/h nahezu rechtwinklig mit dem Fahrzeug des Geschädigten W, der regelkonform bei Grün in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, kollidiert. Der Geschädigte starb noch an der Unfallstelle.
Das Fahrzeug des Angeklagten N sei mit einer Geschwindigkeit von 139–149 km/h mit einer Fußgängerampel kollidiert und mehrere Meter durch die Luft katapultiert worden. Seine Beifahrerin sei erheblich verletzt worden.
Aufgrund dieses Sachverhalts sah das LG die Mordmerkmale Heimtücke, niedrige Beweggründe und gemeingefährliche Mittel als gegeben an. Zudem hätten die Angeklagten tateinheitlich, ebenfalls als Mittäter, eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung zum Nachteil der Beifahrerin des Angeklagten N und eine vorsätzliche Straßenverkehrsgefährdung begangen.
Die Revision des Angeklagten H wurde mit der Maßgabe verworfen, dass der Schuldspruch auf Mord in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit fahrlässiger Körperverletzung abgeändert wurde.
Die Revision des Angeklagten N hatte dagegen Erfolg. Insoweit wurde das Verfahren erneut an das LG zurückverwiesen.
II. Entscheidung
1. Die Erwägungen des LG zu einer mittäterschaftlichen Tatbegehung durch den Angeklagten N hielten, so der BGH, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Kammer habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung lediglich mit der Frage seines Vorsatzes bezogen auf eine eigene Tat, d.h. einen durch ihn selbst verursachten tödlichen Unfall auseinandergesetzt, nicht aber mit einem auf eine gemeinsame Tatausführung mit dem Angeklagten H gerichteten Tatentschluss.
Zudem fehle es an Feststellungen dazu, dass der Angeklagte N nach dem Zeitpunkt, zu dem der gemeinsame Tatentschluss gefasst worden sein soll, noch einen objektiven Tatbeitrag zur Förderung des Erfolgseintritts leistete. Der Angeklagte N hätte nur dann noch Einfluss auf das durch H bereits in Gang gesetzte Geschehen nehmen können, wenn dieser im Zeitpunkt der Fassung eines auf die Tötung eines anderen Verkehrsteilnehmers gerichteten gemeinsamen Tatentschlusses den Unfall noch hätte abwenden können.
2. Die Verurteilung des Angeklagten H hat der Senat hingegen bestätigt. Das LG habe die maßgeblichen vorsatzrelevanten objektiven und subjektiven Tatumstände gesamtwürdigend betrachtet und sich mit den wesentlichen vorsatzkritischen Umständen hinreichend auseinandergesetzt.
a) Die Annahme, dass sich der Angeklagte des Risikos eines Unfalls aufgrund seiner Fahrweise bewusst war, habe die Kammer tragfähig auf die Äußerung des Angeklagten gegenüber einer Verkehrspsychologin gestützt, wonach er dieses Risiko tagsüber meide, es nachts jedoch eingehe. Auch hat es der Senat nicht beanstandet, dass das LG aus der roten Ampel, dem trotz Nachtzeit noch herrschenden Verkehr, der fehlenden Einsehbarkeit der Kreuzung sowie vor allem aufgrund der Beschleunigung auf 160–170 km/h geschlossen hat, der Angeklagte habe erkannt, dass er auf Querverkehr nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte und die Gefahr eines frontalen Aufpralls auf die relativ ungeschützte Fahrerseite eines von rechts kommenden Fahrzeuges mit tödlichem Ausgang für dessen Insassen offenkundig sehr hoch war.
b) Im Hinblick auf das Willenselement des Vorsatzes sei auch nicht zu beanstanden, dass das LG aus der außergewöhnlichen Gefährlichkeit des Verhaltens des Angeklagten H geschlossen hat, dass er einen Unfall mit tödlichem Ausgang für die Insassen querender Fahrzeuge billigend in Kauf nahm. Dabei habe die Kammer insbesondere die durch einen Unfall drohende Gefahr für die eigene körperliche Integrität des Angeklagten zutreffend als wesentlichen vorsatzkritischen Umstand in ihre Betrachtung einbezogen.
Der Eigengefahr komme vorsatzkritische Bedeutung zu, weil diese ein mögliches Indiz für das Vertrauen des Täters sein könne, dass gerade der die Eigengefahr begründende Geschehensablauf nicht eintreten werde. Verwirkliche sich daher ein vom Täter vorgestelltes Geschehen, so sei die vorsatzkritische Indizwirkung der von ihm angenommenen Eigengefährdung allein an diesem Sachverhalt zu messen. Auf mögliche andere Geschehensabläufe komme es insoweit nicht an.
Die Bewertung der Eigengefährdung durch den Täter könne abhängig von seinem Vorstellungsbild über mögliche Tathergänge abgestuft sein. So könne ein Täter ohne weiteres einen bestimmten gefahrbegründenden Sachverhalt wie etwa die Kollision mit einem Fußgänger hinnehmen, während er auf das Ausbleiben eines anderen, für ihn mit höheren Risiko verbundene Geschehensablaufs, etwa einer Kollision mit einem Lkw, vertraut. Für die Prüfung, ob ein konkretes Geschehen mit tödlichen Folgen vom bedingten Vorsatz umfasst war, komme es daher entscheidend darauf an, ob der Täter einen bestimmten Geschehensablauf als möglich erkannt und die mit diesen Geschehensablauf einhergehende Eigengefahr hingenommen hat. Ist dies der Fall und verwirkliche sich gerade dieses Geschehen, sei es für die Prüfung der Vorsatzfrage unerheblich, ob der Täter bei Fassen des Tatentschlusses weitere Geschehensabläufe, die aus seiner Sicht mit einer höheren und deshalb von ihm nicht gebilligten Eigengefahr verbunden waren, ebenfalls für möglich erachtet hat. Hiervon ausgehend habe die Strafkammer bei der Erörterung der Eigengefährdung zutreffend nur das tatsächliche Unfallgeschehen in den Blick genommen. Eine Auseinandersetzung mit möglichen anderen Unfallszenarien sei nicht erforderlich gewesen.
c) Zurecht habe das LG ferner dem Umstand, dass der Angeklagte, wie immer, keinen Sicherheitsgurt angelegt gehabt hatte, keine Bedeutung beigemessen. Der Schluss, dass der Angeklagte aufgrund der modernen Sicherheitstechnik seines Fahrzeugs und mit Blick darauf, dass er trotz früherer Unfallereignisse und einer bewusst riskanten Fahrweise grundsätzlich keinen Sicherheitsgurt anlegte, die Gefahr für seine eigene körperliche Integrität als gering einschätzte, sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
d) Auch habe das Landgericht das Motiv des Angeklagten, das Rennen zu gewinnen, um das Gefühl der Überlegenheit und Selbstwertsteigerung zu verspüren, als vorsatzbestätigend werten dürfen. Angesichts der maximalen Risikosteigerung sei die Wertung der Kammer, der unbedingte Wille des Angeklagten, das Rennen zu gewinnen, sei als Handlungsmotiv derart wirkungsmächtig gewesen, dass ihm die weiteren als möglich erkannten, wenn auch unerwünschten Folgen letztlich gleichgültig waren, nicht zu beanstanden.
e) Schließlich sei es auch nicht durchgreifend rechtsfehlerhaft, dass das LG der Selbstüberschätzung des Angeklagten betreffend seine fahrerischen Fähigkeiten auch bei der Prüfung des Willenselements keine vorsatzausschließende Bedeutung beigemessen hat. Der Angeklagte habe, als er eingedenk des Umstands, im Falle querender Fahrzeuge nicht mehr bremsen zu können, in die Kreuzung einfuhr, das weitere Geschehen bewusst aus der Hand gegeben, so dass es für das Vertrauen darauf, einen Unfall durch besondere Fahrmanöver noch verhindern zu können, an jeder Grundlage fehle.
f) Auch die Bewertung der Tat als Mord halte der Nachprüfung stand. Die Strafkammer habe die Mordmerkmale der Heimtücke sowie der niedrigen Beweggründe zutreffend bejaht. Im Rahmen der Heimtücke sei es für das Ausnutzungsbewusstsein im Hinblick auf die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers weder erforderlich, dass der Täter ein konkretes Opfer sinnlich wahrnimmt, noch, dass er die erkannte Arg- und Wehrlosigkeit instrumentalisiert oder anstrebt.
Das Mordmerkmal eines gemeingefährlichen Mittels habe das LG hingegen zu Unrecht bejaht. Es sei nicht belegt, dass der Angeklagte andere Unfallkonstellationen unter Beteiligung mehrerer Fahrzeuge bzw. über den Primäraufprall hinausgehende weitere Unfallfolgen für sich oder Dritte für möglich hielt und in Kauf nahm.
g) Hinsichtlich der Beifahrerin des Angeklagten N sei der Angeklagte H zudem lediglich der fahrlässigen, nicht aber der gemeinschaftlichen vorsätzlichen Körperverletzung schuldig. Das LG habe nicht festgestellt, dass der Angeklagte H mit einer durch ihn selbst verursachten Verletzung der Beifahrerin rechnete.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Argumentation des BGH leuchtet hinsichtlich beider Angeklagter ein. Die in der Praxis mitunter erhoffte „Gebrauchsanweisung“, wie die sog. Raserfälle generell zu handhaben seien, stellt die Entscheidung aber nicht dar; vielmehr bleibt die rechtliche Bewertung solcher Fälle weiterhin in hohem Maße einzelfallabhängig. Der Senat vermeidet jedwede Verallgemeinerung, sondern argumentiert strikt am festgestellten Sachverhalt. Die Annahme, der BGH habe mit seiner Entscheidung in Raser-Fällen Verurteilungen wegen Mordes erleichtert, wäre daher verfehlt.
RiLGThomas Hillenbrand, Stuttgart