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StRR-Kompakt 2023_

Wiedereinsetzung: Ausschöpfung der Frist

Wer eine Rechtsmittelfrist versäumt, weil er am Tag des Fristablaufs erkrankt ist, kann Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand haben. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte erneut, dass einem Betroffenen nicht vorgeworfen werden darf, dass er eine Frist bis zum letzten Tag ausschöpfen wollte. Die Verweigerung der Wiedereinsetzung verletzt ansonsten den Betroffenen in seinen Rechten auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör.

BVerfG, Beschl. v. 14.2.2023 – 2 BvR 653/20

Bewährungsaussetzung: lebenslange Freiheitsstrafe

Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Verurteilten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs ins Verhältnis setzt. Auf der einen Seite verlangt die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Auf der anderen Seite hat dabei der grundsätzliche Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurückgelegten langen Haftzeit großes Gewicht. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein.

BVerfG, Beschl. v. 24.2.2023 – 2 BvR 17/20 – 2 BvR 962/21

Reduzierte Besetzung der Strafkammer: Rechtsmittel

Die mit dem Eröffnungsbeschluss ergangene Entscheidung der großen Strafkammer über die in der Hauptverhandlung reduzierte Besetzung gemäß § 76 Abs. 2 GVG ist nicht selbstständig mit der Beschwerde anfechtbar. Für den Einwand gegen die in der Hauptverhandlung reduzierte Gerichtsbesetzung ist vielmehr der Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO der statthafte Rechtsbehelf, wobei offenbleiben kann, ob § 222b StPO direkt oder analog Anwendung findet. Der Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO muss ohne Bezugnahmen und Verweisungen die Umstände, welche die fehlerhafte Gerichtsbesetzung begründen sollen, so konkret und vollständig wiedergeben, dass eine abschließende Prüfung durch das Rechtsmittelgericht ermöglicht wird. Für eine durchgreifende Rüge der fehlerhaften Gerichtsbesetzung gemäß § 222b StPO ist erforderlich, dass die Strafkammer ihre Entscheidung auf sachfremde Erwägungen gestützt oder den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat, so dass ihre Entscheidung objektiv willkürlich erscheint.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.2.2023 – 4 Ws 20/23

Durchsuchung: Auskunftsverweigerungsrecht

Ein geltend gemachtes Auskunftsverweigerungsrecht hindert nicht, dass gegen die auskunftsverweigernde Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden kann. Treten weitere Anhaltspunkte hinzu, ist die Strafverfolgungsbehörde auch nicht gehindert, eine Durchsuchung mit dem Ziel, weitere Beweismittel aufzufinden, zu veranlassen, um einen bestehenden Tatverdacht zu überprüfen, sofern sich dieselbe nicht als unverhältnismäßig darstellt.

LG Leipzig, Beschl. v. 10.3.2023 – 5 Qs 12/23

Mitteilungspflicht: Inhalt der Mitteilung

Wenn der Vorsitzende in der Hauptverhandlung lediglich die Gesprächsführung als solche und als deren Ergebnis das Ausbleiben einer Verständigung, nicht aber den wesentlichen Inhalt des Gesprächs mitteilt, genügt er nicht der sich aus § 243 Abs. 4 S. 1 StPO ergebenden Pflicht zur Information über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen, die ohne Einschränkungen auch im Fall erfolgloser Verständigungsbemühungen gilt.

BGH, Beschl. v. 14.2.2023 – 5 StR 527/22

Pflichtverteidiger: Bestellung während laufender Hauptverhandlung

Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Hinweis auf das gestörte Vertrauensverhältnis seinem Wahlverteidiger das Mandat entzogen hat, macht dessen Beiordnung zum Pflichtverteidiger noch nicht verfahrensfehlerhaft. Die sich aus § 142 Abs. 5 S. 1 StPO vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers ergebende zwingende Anhörungspflicht gilt auch für eine ggf. während laufender Hauptverhandlung erforderliche Pflichtverteidigerbestellung.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.2.2023 – 1 Ws 19/23 (S)

Erklärungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung

Äußert sich der Verteidiger in der Hauptverhandlung zur Sache, darf das Gericht diese Angaben nicht ohne weiteres dem schweigenden Betroffenen zurechnen. Es ist nach der Rechtsprechung des BGH, die grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gilt, zu differenzieren: Äußert sich der Verteidiger in Form eines Schriftsatzes zur Sache, handelt es sich grundsätzlich um eine Prozesserklärung des Verteidigers, die dieser aus eigenem Recht und in eigenem Namen abgibt, und nicht um eine Sacheinlassung des Angeklagten. Gleiches gilt bei entsprechenden Erklärungen in der Hauptverhandlung bei Anwesenheit des Betroffenen. Schriftliche und mündliche Erklärungen des Verteidigers können ausnahmsweise als Einlassung des Angeklagten bzw. des Betroffenen entgegengenommen und verwertet werden, wenn ein gesetzlich vorgesehener Fall der Vertretung vorliegt (§§ 234, 329, 350, 387, 411 StPO bzw. § 73 Abs. 3 OWiG) oder wenn der Angeklagte bzw. der Betroffene ausdrücklich erklärt, sie als eigene gelten zu lassen. Eine solche Erklärung des anwesenden Betroffenen ist eine wesentliche Förmlichkeit und protokollierungspflichtig.

KG, Beschl. v. 5.12.2022 – 3 Ws (B) 310/22

Berufungshauptverhandlung: Vertretungsvollmacht

Eine Erklärung, mit der der Angeklagte dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Fall der Abwesenheit des Angeklagten, in allen Instanzen – ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – erteilt hat, genügt den Anforderungen der in § 329 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO vorausgesetzten Vertretungsvollmacht.

BGH, Beschl. v. 24.1.2023 – 3 StR 386/21

Berufungsverfahren: genügende Entschuldigung wegen Corona-Infektion

Legt der Angeklagte sowohl ein Foto von einem positiven Selbsttest als auch ein ärztliches Attest vor, mit dem – nach telefonischer Konsultation des Arztes – das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 bestätigt wird, hat er schlüssig einen Sachverhalt vorgetragen, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.2.2023 – 1 ORs 2 Ss 44/22

Berufungsverwerfung: Wiedereinsetzung

Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 329 Abs. 7 StPO kann nicht auf neue Beweismittel für Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht in seinem Verwerfungsurteil bereits als zur Entschuldigung nicht geeignet gewürdigt hat. Die Vorlage eines Attestes entschuldigt die Säumnis des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nur dann in ausreichender Weise, wenn sich aus dem Attest körperliche oder geistige Beeinträchtigungen ergeben, die eine Teilnahme an der Verhandlung unzumutbar machen.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 Ws 51/23

Fortdauer der Unterbringung: Form der Anhörung

Bei der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist es gemäß § 463e Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 3 StPO unzulässig, die mündliche Anhörung des Sachverständigen im Wege der Bild- und Tonübertragung durch Zuschaltung zum Termin über Videokonferenztechnik durchzuführen.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.3.2023 – 1 Ws 9/23

Organisationshaft: Dauer; Voraussetzungen

Es gibt keinen Grundsatz, nach dem ein Vollzug von Organisationshaft bis zur Dauer von drei Monaten in der Regel rechtmäßig sei. Vielmehr ist der Vollzug von Organisationshaft nur dann rechtmäßig, wenn diese sich nicht vermeiden lässt, obwohl sich die Vollstreckungsbehörden, sobald ihnen bekannt wird, zu welchem Zeitpunkt ein Platz für den Vollzug einer Maßregel benötigt wird, unverzüglich im Rahmen des Möglichen darum bemühen, diesen Platz zu beschaffen.

OLG München, Beschl. v. 15.3.2023 – 3 Ws 119/23

Strafzumessung: Gesinnung des Täters

Zwar kann auch die Gesinnung des Täters bei der Strafbemessung berücksichtigt werden (§ 46 Abs. 2 StGB). Dies gilt aber nur, wenn diese aus der Tat spricht, mit ihr also in einem inneren Zusammenhang steht. Ein außerhalb der Tatausführung liegendes Verhalten und die Lebensführung des Angeklagten müssen – um eine strafschärfende Bewertung zu eröffnen – mit der Straftat zusammenhängen, auf diese Weise Schlüsse auf ihren Unrechtsgehalt zulassen oder Einblick in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewähren.

BGH, Beschl. v. 7.2.2023 – 6 StR 9/23

Beschuhter Fuß: gefährliche Körperverletzung

Zwar kann im Einzelfall ein beschuhter Fuß ein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB sein, was aber voraussetzt, dass damit auf den Körper des Opfers tatsächlich eingewirkt wird. Eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB kommt nur dann in Betracht, wenn die Einwirkung auf das Opfer nach den konkreten Umständen des Einzelfalls generell geeignet ist, dessen Leben zu gefährden. Tritte gegen den Kopf fallen hierunter nur dann, wenn sie nach Art der konkreten Ausführung der Verletzungshandlungen zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können. Die bloß theoretische Möglichkeit einer Lebensgefährdung genügt nicht.

BayObLG, Beschl. v. 2.2.2023 – 202 StRR 6/23

Verstoß gegen das PflVG: Beifahrer

Auch der Beifahrer kann ein nicht haftpflichtversichertes Kfz i.S.d. § 6 Abs. 1 Alt. 1 PflVG gebrauchen (und nicht nur dessen Gebrauch nach § 6 Abs. 1 Alt. 2 PflVG gestatten), wenn er als Käufer und damit (im wirtschaftlichen und „materiellen“ Sinn) Halter des Pkw kraft Tatplanung und Kenntnis aller strafbarkeitsbegründenden Umstände die Tatherrschaft hat und die Fahrt der Verfolgung seiner persönlichen Ziele dient.

KG, Beschl. v. 27.2.2023 – 3 ORs 5/23 – 161 Ss 20/23

Anhalteanordnung einer Amtsträgerin: Widerstandsleistung

Widersetzt sich der Täter der von einer Angehörigen des Gemeindevollzugsdienstes getroffenen Anhalteanordnung („Stopp! Halt!“), welche diese in Erfüllung ihrer Aufgabe, das Abschleppen eines in einer Brandschutzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme zu veranlassen und die Verantwortlichkeit für den dieser Maßnahme zugrunde liegenden Verkehrsverstoß vor Ort zu klären, in der Weise, dass er auf diese mit dem Pkw zufährt, sodass die Amtsträgerin entsprechend der Absicht des Täters zur Seite springen muss, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, leistet er bei der von dieser i.S.v. § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig getroffenen Anordnung unter Einsatz materieller Zwangsmittel Widerstand (§ 113 Abs. 1 StGB), wobei er mit dem Pkw – unter Berücksichtigung der konkreten Art von dessen Verwendung – ein anderes gefährliches Werkzeug i.S.v. § 113 Abs. 2 Ziff. 1 StGB mit sich führt; gleichzeitig (§ 52 StGB) greift er die Amtsträgerin i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich an. Für die Beurteilung der Diensthandlung als rechtmäßig ist unerheblich, dass der Täter durch das Wegfahren mit dem verbotswidrig abgestellten Pkw den ordnungswidrigen Zustand selbst beseitigt.

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 2.3.2023 – 1 ORs 35 Ss 57/23

Auslieferung: Trunkenheitsfahrt

Bei einem Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung wegen einer allein auf der Grundlage der gemessenen Atemalkoholkonzentration abgeurteilten Trunkenheitsfahrt fehlt es an der nach § 3 Abs. 1 IRG erforderlichen beiderseitigen Strafbarkeit, da die Tat nicht nach deutschem Recht strafbar wäre. Eine Strafbarkeit nach § 316 StGB würde tatbestandlich in objektiver Hinsicht eine absolute Fahruntüchtigkeit voraussetzen, also eine für den Tatzeitpunkt festgestellte Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,1 o/oo. Die gemessene Atemalkoholkonzentration allein bietet für eine solche Feststellung keine ausreichende Grundlage.

OLG Celle, Beschl. v. 22.2.2023 – 2 AR (Ausl) 45/22

Geldbuße: Auswirkungen der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Maßnahme

Eine freiwillige verkehrspsychologische Maßnahme ist nicht schlechterdings ungeeignet, im Rahmen der Bemessung der Geldbuße Berücksichtigung zu finden und gegebenenfalls zu einer Reduzierung der Regelgeldbuße zu führen.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 OWi 2 SsRs 64/22

Vollmacht: Nachweis

Die Form des Nachweises der Bevollmächtigung durch Überreichung eines Dokuments zu den Akten ist nicht die einzig zulässige Form. Es muss allerdings klar in den Akten dokumentiert werden oder aus ihnen ersichtlich sein, dass die Bevollmächtigung erfolgt ist.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.3.2023 – 1 ORbs 136/23

Zusätzliche Verfahrensgebühr: Einziehung des Führerscheinformulars

Die anwaltliche Vertretung eines Beschuldigten in einem Strafverfahren, in dessen Lauf die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen wird, löst keinen Gebührenanspruch nach Nr. 4142 VV RVG aus. Das gilt auch für die Einziehung des Führerscheinformulars.

AG Frankfurt a.M., Beschl. v. 3.3.2023 – 993 Cs 443 Js 2095/20 (41/23)

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