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Pflichtverteidiger; unterlassene Bestellung; Verwertungsverbot

1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO.

2. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.

3. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge.

(Leitsätze des Senats)

BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22

I. Sachverhalt

Der Angeklagte wurde vom OLG wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen eine Person in Syrien u.a. zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Tat soll im Juli 2012 begangen worden sein.

Im Ermittlungsverfahren war der Angeklagte insgesamt drei Mal als Beschuldigter polizeilich vernommen worden. Vor den beiden letzten Vernehmungen wurde er, ebenso wie vor der ersten Vernehmung, jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers „beanspruchen“ könne. In der Folge äußerte er sich in zwei Vernehmungen zur Sache, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war.

In der Hauptverhandlung wurde einer der Vernehmungsbeamten als Zeuge gehört Der Beamte machte u.a. Angaben zu den Einlassungen des Angeklagten im Rahmen der vorgenannten Vernehmungen. Die Verteidigung widersprach der Verwertung der Angaben des Vernehmungsbeamten, soweit dieser sich zu Inhalten der beiden ohne Verteidiger durchgeführten Vernehmungen äußerte. Das OLG stützte jedoch seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in einer der Vernehmungen auf die Bekundung des Vernehmungsbeamten.

Die Revision des Angeklagten hatte im Hinblick auf die Verwertung seiner Angaben gegenüber der Polizei keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Es stelle, so der BGH, keinen Rechtsfehler dar, dass dem Angeklagten als damaligem Beschuldigten nicht unabhängig von einem eigenen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Überdies würde eine unterbliebene Bestellung nicht grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot führen.

1. Stellt der Beschuldigte keinen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers, erfolge eine Bestellung antragsunabhängig, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei seiner eigenen Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann. Fehle es an dieser Voraussetzung, so komme nach der gesetzlichen Regelung eine Bestellung ohne Antrag von Amts wegen nicht in Betracht, sofern sie nicht nach sonstigen Vorschriften erforderlich ist. Eine abweichende Auslegung sei, so der Senat, weder systematisch noch richtlinienbezogen noch aufgrund verfassungsrechtlicher Erwägungen geboten. Die Beiordnung von Amts wegen sei ein Ausnahmefall.

Aus der Regelungssystematik der §§ 140, 141 StPO ergebe sich, dass der Pflichtverteidiger im Falle einer notwendigen Verteidigung nicht ohne weiteres sofort bestellt wird, sondern es hierfür grundsätzlich eines Antrags des Beschuldigten bedarf. Die Regelung genüge auch dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung. Der Beschuldigte erhalte Gelegenheit, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen könne.

2. Überdies verlange auch die Prozesskostenhilferichtlinie eine Bestellung ohne Antrag nicht. Soweit in den Erwägungsgründen zu dieser Richtlinie festgehalten ist, dass ein Antrag insbesondere angesichts der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen keine materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein sollte, komme dem bereits nach Wortlaut und Systematik keine bindende Normwirkung zu. Überdies sähen die Erwägungsgründe zur PKH-Richtlinie vor, dass eine beschuldigte Person auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichten kann. Wenngleich ein Verzicht und das Absehen von einer Antragstellung zu unterscheiden seien, lasse sich den Erwägungsgründen dennoch entnehmen, dass die PKH-Richtlinie nicht von einer von Amts wegen ausnahmslos zu gewährenden „Prozesskostenhilfe“ ausgehe.

3. Vielmehr richte es sich maßgeblich nach der individuellen Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, ob er sich nicht selbst verteidigen kann und ihm daher auch ohne Antrag sofort ein Verteidiger zu bestellen ist. Bei der Prüfung der individuellen Verteidigungsfähigkeit sei eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Dabei könne zu berücksichtigen sein, ob der Beschuldigte die deutsche Sprache beherrscht, wenngleich fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung begründeten, der Beschuldigte könne gemäß § 187 Abs. 1 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen. Auch aus der Bedeutung einer Beschuldigtenvernehmung für das weitere Verfahren im Allgemeinen ergebe sich die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung nicht.

4. Darüber hinaus führt der Senat aus, dass selbst in dem Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben ist, hieraus nicht generell deren Unverwertbarkeit folge. Das Strafverfahrensrecht kenne keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsverbote ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe. Vielmehr handele es sich bei einem solchen Verbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Insoweit bezieht sich der Senat auf die bisherige Rechtsprechung des BGH, wonach ein Beweisverwertungsverbot insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein könne, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind. Diese Maßstäbe seien auch bei einem etwaigen Verstoß gegen das Gebot zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beachten. Überdies liege dem nationalen Gesetzgebungsverfahren die Erwägung zugrunde, dass ein Verstoß nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führen soll.

Hiervon ausgehend sei die Verwertung der Angaben des Polizeibeamten über den Inhalt der ohne Verteidiger durchgeführten Beschuldigtenvernehmungen nicht zu beanstanden. Ein Grund, aufgrund dessen der Beschuldigte nicht in der Lage gewesen sein könnte, sich selbst zu verteidigen, sei nicht ersichtlich. Weder seine unzureichenden Sprachkenntnisse noch die Schwere der Tatvorwürfe oder Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung reichten hierfür aus. Auch ergebe sich aus einer Zusammenschau der Umstände nichts anderes.

Zu einer anderen Bewertung führe auch der Umstand nicht, dass der Angeklagte teils unkorrekt belehrt wurde, indem ihm mitgeteilt wurde, er könne die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht beantragen, sondern „beanspruchen“. Entweder sei ein Beschuldigter in der Lage, sich bei einer Vernehmung selbst zu verteidigen, oder er sei es nicht. Ob er zuvor zutreffend über einen Anspruch oder Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung belehrt worden ist, betreffe seine individuellen Fähigkeiten nicht.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung des BGH hat Konsequenzen, die weit über den vorliegenden Einzelfall hinausreichen und die Arbeit der Verteidigung erheblich erschweren werden. Zwar entspricht es in der Tat dem Willen des Gesetzgebers, dass eine unterbliebene Beiordnung von Amts wegen nur in Ausnahmefällen zu einem Verwertungsverbot führen soll, und es war auch zu erwarten, dass der BGH die Hürden für ein Verwertungsverbot – wie immer – recht hoch legen wird. Nunmehr liegt die Hürde aber so hoch, dass eine zwar an sich gebotene, aber gleichwohl unterbliebene Verteidigerbestellung von Amts wegen mit der Revision de facto kaum noch erfolgreich gerügt werden kann.

Der Angeklagte war mit dem Vorwurf konfrontiert, schwere Straftaten nach dem VStGB begangen zu haben, vor nunmehr beinahe zehn Jahren in einem Bürgerkriegsgebiet. Mithin lag dem Verfahren eine Konstellation zugrunde, die jedenfalls nicht zum Standardrepertoire eines deutschen Strafjuristen gehören dürfte. Die Beweiswürdigung bezeichnet der Senat selbst als ersichtlich sehr schwierig. Bereits dies lässt es als sehr restriktiv erscheinen, wenn dem Beschuldigten bescheinigt wird, seine individuelle Schutzbedürftigkeit sei nicht derart stark ausgeprägt, dass er bei den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren des Beistands eines Verteidigers bedurft hätte.

Darüber hinaus ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig und wurde ferner, was der Senat nicht in Abrede stellt, teils unzutreffend belehrt. All dies führt nach Auffassung des BGH nicht, auch nicht im Rahmen einer Gesamtschau, zur Erforderlichkeit einer Verteidigerbestellung von Amts wegen und soll selbst dann, wenn man zu dem Ergebnis käme, dass es einer Bestellung bedurft hätte, nicht zur Unverwertbarkeit seiner Angaben führen.

Hält man sich all dies vor Augen, muss man feststellen, dass für eine Beiordnung von Amts wegen kaum noch Raum verbleibt, zumindest wenn der Beschuldigte nicht an einer gravierenden intellektuellen Minderbegabung oder an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet. Fehlt es hingegen an derartigen Beeinträchtigungen, hat die Verteidigung gegen eine unterlassene Beiordnung faktisch keine Handhabe. Zwar kann natürlich vorgetragen werden, der Beschuldigte sei zu einer selbstständigen Verteidigung nicht in der Lage gewesen; es liegt jedoch auf der Hand, dass die Gerichte in vielen Fällen der Einschätzung der polizeilichen Vernehmungsbeamten, die in der Hauptverhandlung – natürlich – bekunden werden, dass der Beschuldigte ihrem Eindruck nach jederzeit in der Lage war, seine Rechte eigenständig wahrzunehmen, folgen werden und sich die Verteidigung mit dem Bemerken begnügen muss, für eine unzureichende Fähigkeit zur Selbstverteidigung seien hinreichend konkrete Anhaltspunkte „weder ersichtlich noch vorgetragen“. In geeigneten Fällen kann es sich daher anbieten, eine psychiatrische Begutachtung des Angeklagten zu beantragen, um nicht ausschließlich von den subjektiven Eindrücken der Vernehmungsbeamten abhängig zu sein.

Nach alledem bleibt der Verteidigung, sofern denn rechtzeitig eine Mandatierung erfolgt, nur, ihrem Mandanten noch dringender als bisher dazu zu raten, gegenüber den Strafverfolgungsbehörden keine Angaben zu machen, schon gar nicht in Abwesenheit des Verteidigers. Andernfalls drohen Schäden, die sich im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht mehr beheben lassen. Die Hoffnung, die Verwertung von in Abwesenheit der Verteidigung getätigten Angaben verhindern zu können, hat der BGH mit der vorliegenden Entscheidung bis auf ganz wenige Ausnahmefälle beerdigt.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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