Beitrag

Unentschuldigtes Ausbleiben von Nebenbetroffenen

Auf nebenbetroffene juristische Personen und Personenvereinigungen ist § 74 Abs. 2 OWiG weder direkt noch analog oder ergänzend anwendbar.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 24.12.2021 – KRB 11/21

I. Sachverhalt

Das OLG Düsseldorf hat den Einspruch der Nebenbetroffenen gegen einen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil die gesetzlichen Vertreter der Nebenbetroffenen, deren persönliches Erscheinen zur Hauptverhandlung angeordnet worden war, der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben sind (WuW 2020, 671). Die Generalstaatsanwaltschaft hatte beantragt, aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil zu entscheiden. Die Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft war erfolgreich.

II. Entscheidung

Die Annahme des OLG, es müsse oder könne den Einspruch der Nebenbetroffenen gem. § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen, sei rechtsfehlerhaft. Denn auf eine nebenbetroffene juristische Person finde § 74 Abs. 2 OWiG weder unmittelbar noch entsprechend oder ergänzend Anwendung. Vielmehr gelte stattdessen § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 444 StPO. Seinem klaren Wortlaut nach knüpfe § 74 Abs. 2 OWiG allein an den Betroffenen an. Betroffener i.S.d. OWiG ist die natürliche Person, gegen die sich das Verfahren richtet. Weder die juristische Person noch der Personenverband unterfielen diesem Begriff.

Für eine entsprechende Anwendung des § 74 Abs. 2 OWiG sei kein Raum. In der obergerichtlichen Rechtsprechung würden dazu unterschiedliche Auffassungen vertreten. Verschiedene OLG bejahten eine entsprechende Anwendung (vgl. OLG Stuttgart wistra 2007, 279, 280; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 20.12.2010 – 1 SsBs 29/09, juris). Die Gegenauffassung lehne eine entsprechende Anwendung des § 74 Abs. 2 OWiG für diese Fallkonstellation ab (OLG Köln StraFo 2002, 359). Die letztgenannte Ansicht sei richtig. Die grammatikalische, systematische, historische und teleologische Auslegung ergebe, dass schon keine planwidrige Regelungslücke besteht, die eine entsprechende Anwendung des § 74 Abs. 2 OWiG rechtfertigen könnte (wird eingehend ausgeführt). Die Regelung in § 74 Abs. 2 OWiG erfasse nur den Fall, dass der Betroffene als natürliche Person in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war. Bei gegen nebenbetroffene juristische Personen und Personenvereinigungen geführten Verfahren habe der Gesetzgeber eine grundlegend andere Regelung getroffen. Die juristische Person oder Personenvereinigung werde zwar, wie der Betroffene, zur Hauptverhandlung geladen. Bleibt allerdings ihr Vertreter ohne genügende Entschuldigung aus, könne ohne sie verhandelt werden, wenn in der Ladung ein entsprechender Hinweis erfolgt ist (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2, 429 Abs. 3 Nr. 1 StPO). Die Verfahrensfolgen ergäben sich für diesen Fall aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 444 StPO. Stattdessen oder daneben sei § 74 Abs. 2 OWiG nicht anwendbar; die Verfahrensvorschriften schlössen einander aus. Die Regelung des § 74 Abs. 2 OWiG knüpfe an § 73 Abs. 1 OWiG an, wonach der Betroffene als natürliche Person zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet ist. Demgegenüber bestehe für Vertreter juristischer Personen und Personenvereinigungen in der Hauptverhandlung von vorneherein keine Anwesenheitspflicht (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 444 Abs. 2 S. 1 StPO).

Die Anwendbarkeit des § 74 Abs. 2 OWiG auf juristische Personen und Personenvereinigungen ergebe sich auch nicht aus §§ 88 Abs. 3, 87 Abs. 2 S. 1 OWiG. Nach §§ 87 Abs. 2 S. 1, 88 Abs. 1 OWiG erlangt die juristische Person und Personenvereinigung mit dem Erlass des Bußgeldbescheides oder mit der vom Gericht ausgesprochenen Beteiligungsanordnung zwar die „Befugnisse“, die einem Betroffenen zustehen. Die Verweisung in § 88 Abs. 3 OWiG lasse den Nebenbetroffenen allerdings nicht vollständig in die Stellung des Betroffenen einrücken. Die Regelung in § 74 Abs. 2 OWiG räume dem Betroffenen auch keine „Befugnis“ i.S.d. § 87 Abs. 2 S. 1 OWiG ein. Sie sehe vielmehr eine Verfahrensfolge für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens von der Hauptverhandlung vor. Soweit sich für den Betroffenen aus der Verwerfung seines Einspruchs und der damit eintretenden Rechtskraft des Bußgeldbescheids im Einzelfall unter Umständen ein Vorteil ergeben kann, weil einer möglichen Verböserung der Buße durch ein Sachurteil des Gerichts (§ 66 Abs. 2 Nr. 1b OWiG) die Grundlage entzogen wird, handele es sich um einen bloßen Reflex der gesetzlichen Regelung, nicht um eine Befugnis des Betroffenen. Entgegen der Auffassung des OLG rechtfertigte auch die Möglichkeit des Gerichts, die Vertreter der Nebenbetroffenen vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, mit der von ihm angenommenen Folge, dass der Nebenbetroffenen die gezielte Erwirkung einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG dann nicht mehr möglich sei, keine abweichende Entscheidung. Schon im Ausgangspunkt stelle sich für die nebenbetroffene juristische Person oder Personenvereinigung nicht die Frage, ob sie in der Hauptverhandlung „anwesend“ sein muss. Sie sei ein nicht körperlicher Rechtsträger. Das Verhalten ihrer Organe stelle für sie kein Eigenhandeln dar, dieses entstehe allein durch Zurechnung. Fraglich könne deshalb allenfalls sein, ob die nebenbetroffene juristische Person oder Personenvereinigung in der Hauptverhandlung wirksam vertreten wird. Dies sei nicht nur organschaftlich, sondern gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 444 Abs. 2 S. 2, § 428 Abs. 1 StPO in jeder Lage des Verfahrens auch rechtsgeschäftlich möglich, insbesondere wie hier durch einen Rechtsanwalt mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht.

Soweit die Nebenbetroffene eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) darin sieht, dass ein Betroffener als natürliche Person durch sein beabsichtigt unentschuldigtes Ausbleiben in der Hauptverhandlung die Verwerfung des Einspruchs erzwingen könne, während ihr als juristischer Person dies verwehrt sei, könne dem nicht zugestimmt werden. Eine Ungleichbehandlung komme von vorneherein nur dann in Betracht, wenn eine natürliche Person der Hauptverhandlung ohne ausreichende Entschuldigung fernbleibt, die vom persönlichen Erscheinen nicht entbunden worden ist. In diesem Fall könne die natürliche Person ein Urteil des Gerichts und damit eine für sie im Vergleich zum Bußgeldbescheid vielleicht ungünstigere Bewertung der Tat verhindern. Allerdings verzichte sie damit zugleich auf die Möglichkeit einer günstigeren Bewertung durch das Gericht. Hinzu komme, dass der Gesetzgeber die von ihm gewählte Differenzierung tragfähig begründet hat. Die geltende Fassung der §§ 73, 74 OWiG diene dem erklärten Ziel der dringend gebotenen Entlastung der Gerichte. Spezialgesetzliche Ordnungswidrigkeiten, insbesondere Kartellbußgeldverfahren, die vielfach nicht gegen natürliche Personen, sondern gegen juristische Personen und Personenvereinigungen geführt werden, machten einen zahlenmäßig weit untergeordneten Anteil aus. Aus dem gesetzlichen Regelungsmechanismus ergebe sich auch dann kein Wertungswiderspruch, wenn im Rahmen eines einheitlichen Verfahrens der Einspruch eines unentschuldigt nicht erschienenen Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden müsste, das Verfahren gegen eine nebenbetroffene juristische Person oder Personenvereinigung, bei der das persönliche Erscheinen des gesetzlichen Vertreters angeordnet worden ist, bei dessen unentschuldigtem Ausbleiben aber weitzuführen ist. Es treffe zwar zu, dass gesetzliche Vertreter der Nebenbetroffenen und Betroffene nicht selten personenidentisch sind. Diese Verfahrenslage sei dem Gesetzgeber indes bekannt gewesen; einen Gleichlauf der Verfahrensfolge habe er dennoch nicht vorgesehen. Auch aus dem für das einheitliche Verfahren aus §§ 444 StPO, 30 Abs. 4 S. 1 OWiG abzuleitenden Grundsatz, dass die Entscheidung über die gegen den Verband einerseits und die beschuldigte natürliche Person andererseits zu verhängende Sanktion einheitlich ergehen soll, ergebe sich nichts anderes. Denn dieser erfasse die vorliegende Fallgestaltung nicht.

III. Bedeutung für die Praxis

Der 27 Seiten starke und für BGHSt vorgesehene Beschluss des Kartellsenats klärt höchstrichterlich die bislang streitige Rechtsfrage wie im Tenor ersichtlich. Er reicht aber über den Kartellbereich weit hinaus. Auch für den Bereich des selbstständigen Einziehungsverfahren gem. § 29a Abs. 5 OWiG zur Einziehung des Wertes von Taterträgen wird der Ausschluss der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG zukünftig zu beachten sein (näher Burhoff/Deutscher, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 1126 m. N.).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…