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Rechtsprechungsübersicht zu den Tötungsdelikten

Der Beitrag wertet die neuere Rechtsprechung zu den Tötungsdelikten aus, er schließt an an den Beitrag in StRR 8/2019, 4 sowie 9/2019, 5.

I.Mord, § 211 StGB

Auch in dieser Rechtsprechungsübersicht entfällt das Gros der berichtenswerten Entscheidungen auf BGH-Entscheidungen zu § 211 StGB. Einen erheblichen Anteil hatten hierbei die sog. „Raser-Fälle“, deren umfassende Darstellung jedoch den Rahmen dieser Übersicht sprengen würde. Exemplarisch sei auf die Entscheidungen des 4.Strafsenats 4 StR 266/20 (DAR 2021, 271) sowie 4 StR 333/20 (StV 2022, 72) hingewiesen, die sich ausführlich mit der jeweiligen Vorsatzthematik befassen.

1. Habgier

Der 4. Strafsenat hatte in einem Verfahren darüber zu entscheiden, ob ein Täter aus Habgier handelt, wenn er die versuchte Tötung nur deswegen begeht, um eine langfristige staatliche Versorgung in einer Haftanstalt für sich zu erreichen.

Im Ergebnis bejahte der BGH, wie zuvor schon das LG, dies. Habgier bedeute ein Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteige. Voraussetzung hierfür sei, dass sich das Vermögen des Täters ‒ objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung ‒ durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehre oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entstehe.

Einen funktionalen Zusammenhang zwischen Tötung und Vermögensvermehrung in dem Sinne, dass der Angriff auf das Leben aus Sicht des Täters unerlässliches Mittel zur Zielerreichung ist, setze das Mordmerkmal nicht voraus, entscheidend ist vielmehr die Motivation des Täters. Für die Annahme einer Tötung aus Habgier sei ferner unerheblich, dass der erstrebte Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus dem Vermögen des Opfers stammen sollte. Der Annahme der Habgier stünden die mit der erstrebten Inhaftierung verbundenen persönlichen Einschränkungen des Angeklagten nicht entgegen, weil diese in seiner Vorstellung nur eine untergeordnete Rolle spielten und der angestrebte Vermögensvorteil für den Angeklagten das maßgebliche Tatmotiv war (BGH NStZ 2020, 733; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Habgier 7).

2. Sonstige niedrige Beweggründe

a) Jugendlicher „Ehrenkodex“

In einem Jugendstrafverfahren hatte das LG die Angeklagten nur wegen versuchten Totschlags verurteilt. Dort war ein mehr oder weniger zufällig anwesender Passant von der Tätergruppe zunächst durch Schläge misshandelt und ihm ein Messerstich zugefügt worden. Nachdem die Angeklagten zunächst vom Geschädigten abgelassen hatten, griff ein Angeklagter diesen erneut mit dem Messer an, die übrigen Angeklagten umstellten den Geschädigten erneut, weil innerhalb der Gruppe eine Art „Ehrenkodex“ herrschte, wonach jeder den anderen bei Auseinandersetzungen unterstütze. Das LG hatte dies nicht als niedrige Beweggründe i.S.v. § 211 StGB angesehen, die Tat sei infolge einer sich im weiteren Geschehensverlauf entwickelnden Gruppendynamik und Gruppenloyalität begangen worden, die zwischen den Mitgliedern der Gruppe üblich war und aufgrund derer keiner der Angeklagten die jeweils anderen im Stich lassen wollte.

Der BGH beanstandete die Ablehnung niedriger Beweggründe. Die billigend in Kauf genommene Auslöschung des Lebens eines Zufallsopfers wegen der Orientierung an einem gruppeninternen „Ehrenkodex“ ist keine verständliche Reaktion, sondern eine besonders verachtenswerte Form der Geringschätzung des personalen Eigenwerts des Opfers. Dabei lässt die Tat nachgerade eine Gesinnung der Täter erkennen, die Freude an körperlicher Misshandlung zum Inhalt habe. Das damit bestehende eklatante Missverhältnis zwischen Anlass und Tat ist als sittlich besonders verwerflich zu qualifizieren (6 StR 142/20, NStZ 2021, 734 f.).

b) Kulturell bedingt abweichende Ehrbegriffe

Im Berichtszeitraum fanden sich weitere Entscheidungen, in denen das Tatmotiv auf bestimmten, teils kulturell begründeten abweichenden Ehrbegriffen beruhte.

Hierbei führt der BGH seine bisherige Rechtsprechung fort, wonach der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen sei und nicht den Anschauungen einer Bevölkerungsgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkenne.

Exemplarisch: Der Angeklagte hatte einen versehentlichen „Rempler“ gegen seine Frau und ein kurzes Gespräch mit dieser auf der Straße zum Anlass für Messerangriffe gegen das Opfer und eine weitere Person genommen. Der Angeklagte sehe sich als tschetschenischer Muslim, dessen Bild von einer Partnerschaft durch die Vorstellung geprägt sei, eine Ehefrau habe dem Mann zu gehorchen. Die Zulassung eines auch nur sehr kurzen Kontaktes zwischen seiner Freundin und einem unbekannten Mann sei vom Angeklagten als Provokation, aber auch als eigenes Versagen und schließlich als Kränkung empfunden worden, die wiedergutzumachen es gegolten habe.

Mit den Werten des durchweg auf Gleichberechtigung und gegenseitige personelle Achtung angelegten deutschen Rechts ist es unvereinbar, das Ansprechen einer Frau durch einen anderen Mann auf der Grundlage einer Art von „Besitzanspruch“ als schwere Provokation auszulegen. Für ein nach den Maßstäben der hiesigen Rechtsgemeinschaft harmloses Tun einen anderen Menschen zu töten, stellt vielmehr wegen des eklatanten Missverhältnisses zwischen Anlass und Tat grundsätzlich einen niedrigen Beweggrund dar (BGH NStZ-RR 2020, 40 f.).

c) Politisch motivierte Tat

In einer Haftfortdauerentscheidung im Verfahren um den Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke ordnete der 3. Strafsenat mit kurzer Begründung eine Tötung aus politischen Gründen als „sonstigen niedrigen Grund“ ein (BGH StV 2021, 564). Eine solche politische Tatmotivation sei jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG nach allgemeiner sittlicher Anschauung grundsätzlich verachtenswert und stehe auf tiefster Stufe, da die bewusste Missachtung des Prinzips der Gewaltfreiheit der politischen Auseinandersetzung durch physische Vernichtung politischer Gegner mit der Rechtsordnung schlichtweg unvereinbar sei.

d) Homophobie im sog. Motivbündel

Mit (latenter) Homophobie als Teil eines sog. Motivbündels hatte sich der 5. Strafsenat des BGH zu befassen. Dort hatte das erkennbar homosexuelle Opfer in der Hoffnung auf einvernehmlichen Geschlechtsverkehr im Rahmen eines gemeinsamen Trinkgelages gegenüber den Angeklagten seinen Penis und Gesäß entblößt. Die Angeklagten gerieten hierüber in Wut, nach einer zunächst verbalen Auseinandersetzung stürzten sie sich auf das Opfer und misshandelten es so schwer, dass es im Laufe der Nacht verstarb.

Nach Auffassung des BGH war die Verneinung von niedrigen Beweggründen durch das LG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach den Urteilsfeststellungen sei das Tatmotiv der Angeklagten Wut und Empörung über die sexuellen Avancen ihres Zimmergenossen gewesen. Diese Gefühle beruhten einerseits auf ihrer (latenten) Homophobie, wurden aber überlagert von der Erregung über die von ihnen als bedrängend empfundene sexuelle Belästigung durch den angebotenen Geschlechtsverkehr. Da beim Vorliegen eines Motivbündels die vorsätzliche Tötung aber nur dann auf niedrigen Beweggründen beruht, wenn das Hauptmotiv, welches der Tat ihr Gepräge gibt, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb verwerflich ist, war dem LG die Annahme des Mordmerkmals verwehrt (BGH StV 2020, 475 f.; JR 2021, 216 ff.).

3. Heimtücke

Wie bereits in den vorangegangenen Rechtsprechungsübersichten erwies sich das Mordmerkmal der Heimtücke als besonders „revisionsträchtig“, sowohl hinsichtlich der objektiven als auch der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen.

a) Tödlicher Angriff nach vorangegangener Aggression

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.

Eben diese Nicht-Mehr-Arglosigkeit verneinte der BGH in einem Fall, in dem der Angeklagte auf der Straße mit einem Radfahrer, dem späteren Opfer, in ein zunächst verbales Gefecht geriet, anschließend aggressiv auf das Opfer zulief, das daraufhin die Flucht ergriff. Nach kurzer Wegstrecke holte der Angeklagte sein Opfer ein und versetzte ihm einen tödlichen Messerstich.

Nach den Feststellungen geschah der erste mit Tötungsvorsatz geführte Angriff erst, nachdem der Geschädigte auf der Flucht vom Angeklagten eingeholt und zu Boden gebracht worden war. Danach war das Opfer in diesem Zeitpunkt nicht mehr arglos, sondern lediglich vor der überraschenden ersten Angriffsbewegung, die ihn zur Flucht bewegte. Die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem mit Tötungsvorsatz geführten unmittelbaren Angriff war nicht so kurz, dass dem Opfer angesichts der Fluchtmöglichkeit und anwesender Zeugen keine Möglichkeit mehr blieb, dem Angriff zu begegnen. Dass der Geschädigte seinem Verfolger letztlich nicht entkommen ist, sei ohne Belang (BGH NStZ 2021, 287 f.).

b) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Arg- und Wehrlosigkeit

Wie in der vorstehend berichteten Entscheidung skizziert, ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs der maßgebliche Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, wie der 4. Strafsenat in einer neuerlichen Entscheidung ausführt.

Im entschiedenen Fall hatte der Angeklagte, dessen Ehe zerrüttet war, seine zuvor aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogene Ehefrau zu einem Gespräch in die Wohnung gebeten. Dort wollte der Angeklagte im persönlichen Gespräch unmissverständlich klären, ob seine Frau bereit sei, zu ihm zurückzukehren. Im Weigerungsfalle beabsichtigte der Angeklagte, seine Frau und dann sich selbst zu erschießen. Hierzu legte er zwei Schusswaffen griffbereit in einer Kommode im Flur ab. Als die Ehefrau in dem persönlichen Gespräch einen Wiedereinzug kategorisch ausschloss, geriet der Angeklagte in Aufregung. Seine Ehefrau begann zu ahnen, dass ihr Gewalt drohe, und wollte die Wohnung verlassen. Hier trat ihr der Angeklagte entgegen und schoss einmal auf den Kopf seiner Frau, fügte ihr jedoch nur einen Streifschuss zu. Der unmittelbar danach abgefeuerte Schuss tötete die Ehefrau.

Der BGH führt hierzu aus: Es ist anerkannt, dass bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat das heimtückische Vorgehen auch gerade in den Vorkehrungen liegen kann, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken. Für die Erfüllung des Heimtückemerkmals ausreichend ist, dass der mit Tötungsvorsatz handelnde Täter das Tatopfer im Vorbereitungsstadium der Tat unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeiten bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in diesen Sachverhaltskonstellationen ohne jede Bedeutung (BGH NStZ 2021, 609 ff.).

c) Ausnutzungsbewusstsein und Alkoholisierung

Zur subjektiven Seite des Heimtückemordes hat der 2. Strafsenat ausgeführt, dass die Feststellung des Ausnutzungsbewusstseins besonders gründlicher Beweiswürdigung bedarf. Im entschiedenen Fall hatte der langjährig alkoholkranke Angeklagte seinen Vater nach einem vorangegangenen Streit in dessen Schlafzimmer mit 30 Messerstichen getötet.

Die Würdigung des LG, der Angeklagte habe heimtückisch gehandelt, hielt sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Für das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers sei es erforderlich, dass der Täter die Umstände, die die Tötung zu einer heimtückischen machen, nicht nur an sich wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst habe, dass ihm bewusst geworden sei, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Wenn auch nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran hindere, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tatbegehung zu erkennen, so könne doch insbesondere die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte.

Dasselbe gilt für eine – erhebliche – Alkoholisierung des Täters. Deshalb bedarf es in solchen Fällen in aller Regel der Darlegung der Beweisanzeichen, aus denen der Tatrichter folgert, dass der Täter trotz seiner Alkoholisierung und Erregung die für die Heimtücke maßgebenden Gesichtspunkte in sein Bewusstsein aufgenommen habe. Hier habe eine Mischintoxikation von Alkohol und Cannabis vorgelegen, die Kammer habe nicht erörtert, dass der Angeklagte 30 Stiche ausgeführt habe und der Angeklagte in mehrerlei Hinsicht „befremdlich wirkendes“ Nachtatverhalten an den Tag gelegt habe. Zudem habe sich das LG den Blick dafür verstellt, dass Affektdelikte auch außerhalb von Partnerkonstellationen vorkommen können (BGH NStZ 2021, 162 f. = StV 2021, 108 ff.).

4. Gemeingefährliche Mittel

Bei der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln muss der Täter nach ständiger Rechtsprechung ein Tötungsmittel einsetzen, das in der konkreten Tatsituation eine unbestimmte Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Dabei ist nicht allein auf die abstrakte Gefährlichkeit eines Mittels abzustellen, sondern auf seine Eignung und Wirkung in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters.

Der subjektive Tatbestand dieses Mordmerkmals setzt voraus, dass der Täter die mangelnde Beherrschbarkeit der Wirkung des Tötungsmittels und die daraus resultierende Möglichkeit der Gefährdung einer unbestimmten Zahl von Personen an Leib oder Leben kennt oder jedenfalls ernsthaft für möglich hält und einen solchen Gefahreneintritt wünscht oder wenigstens billigend in Kauf nimmt

a) Übergreifen auf andere Wohnhäuser?

Letzteres sah der 1 Strafsenat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2020 als nicht tragfähig belegt an. Dort hatte die Angeklagte allein den Tod ihres Ex-Ehemanns im Auge, als sie dessen Haus mit Benzin in Brand setzte. Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte damit rechnete und dies billigte, die Flammen würden auch auf das ca. 15 m entfernt stehende Wohnhaus übergreifen oder Rettungskräfte der Feuerwehr gefährden können, seien den Urteilsgründen nicht zu entnehmen (BGH NStZ 2021, 361 f.).

b) „Schlichte“ Mehrfachtötung

Das Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel umfasst hingegen nicht die sog. schlichte Mehrfachtötung, bei der sich der Täter mit Tötungsabsicht gegen eine bestimmte Anzahl von ihm individualisierter Opfer richtet. Im entschiedenen Fall hatte der Angeklagte, ein gelernter Feuerwehrmann, die Scheune neben dem Haus seiner Ex-Partnerin angezündet, wohl wissend, dass die Frau und ihre beiden Kinder im Haus schliefen. Die Ex-Partnerin konnte sich mit ihren Kindern rechtzeitig in Sicherheit bringen. Die Gefährdung weiterer Personen im Haus oder Anwohner war nach den Feststellungen nicht vom Vorsatz des Angeklagten umfasst (BGH NStZ 2020, 284 f.)

5. Verdeckung und Ermöglichung

a) Verdeckungsabsicht im sog. Motivbündel

Ein unheilbar kranker und schwerstpflegebedürftiger Patient hatte aufgrund einer Verwechslung falsche (blutdrucksenkende) Medikamente zugeteilt bekommen und eingenommen. Die Angeklagte bemerkte den Fehler, unterließ es aber, den diensthabenden Arzt zu informieren. Grund hierfür war u.a. die Furcht vor beruflichen Konsequenzen, aber auch die von ihr geäußerte Hoffnung, der Patient könne „endlich sterben“.

Der 1. Strafsenat hob die Verurteilung wegen versuchten Mordes durch Unterlassen auf.

Zum einen sei die Beweiswürdigung zum Willenselement des bedingten Vorsatzes lückenhaft. Das LG habe bei der Gesamtwürdigung nicht berücksichtigt, dass die Angeklagte den Mitangeklagten bei der Schichtübergabe über die Medikamentenverwechslung unterrichtet und diesen aufgefordert habe, öfter nach dem Gesundheitszustand des Geschädigten zu sehen. Dieser Gesichtspunkt könnte – auch vor dem Hintergrund, dass ein weiterer Mitwisser geschaffen wurde – gegen die billigende Inkaufnahme eines Todeseintritts durch die Angeklagte sprechen. Zudem wäre in den Blick zu nehmen, dass für ein Kaschieren der Medikamentenverwechslung das Eintreten des Todes des Geschädigten nicht erforderlich war, der Angeklagten vielmehr daran gelegen sein konnte, dass der Tod gerade nicht eintritt.

Zum anderen halte die Annahme der Verdeckungsabsicht rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht setze voraus, dass der Täter bei der Tötungshandlung – im Falle des Unterlassens – die ihm zur Abwendung des Todeseintritts gebotene Handlung unterlasse, um dadurch eine „andere“ Straftat zu verdecken. Dabei schlössen sich Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz nicht grundsätzlich aus. So komme die Annahme von Verdeckungsabsicht grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Tod des Opfers nicht mit direktem Vorsatz angestrebt, sondern nur bedingt vorsätzlich in Kauf genommen werde, wenn sich im Einzelfall der Tod des Opfers nicht als zwingend notwendige Voraussetzung einer Verdeckung darstellt. Voraussetzung ist aber stets, dass die Verdeckungshandlung selbst nach der Vorstellung des Täters Mittel der Verdeckung sein soll. Der Angeklagten sei bewusst gewesen, dass die Medikamentenverwechslung den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung erfülle. Demgemäß war das Unterlassen selbst Mittel der Verdeckung, wobei für die Verdeckung der Fehlmedikation und damit der fahrlässigen Körperverletzung der Eintritt des Todes nicht zwingend notwendig war.

Kämen bei der Prüfung der subjektiven Mordmerkmale verschiedene, möglicherweise zusammenwirkende Motive des Täters in Betracht (sog. Motivbündel), habe das Tatgericht sämtliche wirkmächtigen Elemente in seine Würdigung einzubeziehen. In der geäußerten Hoffnung, der Patient könne „endlich sterben“, könne eine – möglicherweise altruistische – Haltung zum Ausdruck kommen, letztlich dem Willen des Geschädigten nachzukommen, der nach den Feststellungen nur noch eine palliativmedizinische Behandlung wünschte. Damit habe das LG ein weiteres mögliches Motiv für das Nichtunterrichten eines Arztes von der Fehlmedikation festgestellt, dieses aber bei der Prüfung der Verdeckungsabsicht nicht erwähnt. Somit sei die Würdigung hinsichtlich eines möglichen Motivbündels und des tatbeherrschenden Ziels lückenhaft (BGH StV 2021, 367 ff. = StraFo 2021, 80 ff.).

b) Verdeckungsabsicht und Flucht

In einem vom 4. Strafsenat entschiedenen Fall hatten die Angeklagten ihr Opfer auf einem Rastplatz entführt, ihm Kreditkarten und PINs abgepresst, es zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt schwer misshandelt und dann in einem Transporter auf einem Waldweg zurückgelassen, wo der Geschädigte verstarb. Das LG hatte das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht verneint.

In Verdeckungsabsicht handele, so der BGH, wer als Täter ein Opfer deswegen töte, um dadurch eine vorangegangene Straftat als solche oder auch Spuren zu verdecken, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über bedeutsame Tatumstände geben könnten. Zu den einer Verdeckung zugänglichen Tatumständen gehöre insbesondere die eigene Beteiligung an der vorangegangenen Tat. Schon begrifflich scheide eine Tötung zur Verdeckung einer Straftat dagegen aus, wenn diese bereits aufgedeckt sei. Für die Beurteilung dieser Frage komme es nicht auf die objektiv gegebene Sachlage, sondern ausschließlich auf die subjektive Sicht des Täters an. Solange der Täter subjektiv davon ausgehe, dass die Umstände der Tat noch nicht in einem die Strafverfolgung sicherstellenden Umfang bekannt seien, kommt eine Tötung aus Verdeckungsabsicht in Betracht.

Eine beim Täter gegebene Fluchtmotivation stehe der Annahme von Verdeckungsabsicht nicht entgegen. In Fällen, in denen eine befürchtete Ergreifung aus der allein maßgeblichen Sicht des Täters zugleich die Aufdeckung der eigenen Tatbeteiligung zur Folge haben kann, bestehe vielmehr notwendigerweise ein enger Zusammenhang zwischen Flucht und Tatverdeckung, aufgrund dessen die Absicht zu fliehen in aller Regel auch den bestimmenden Willen umfasse, die eigene Täterschaft zu verdecken. Eine andere Bewertung sei dann geboten, wenn der Täter – unabhängig von einem noch für möglich gehaltenen Verbergen seiner Täterschaft – ausschließlich deswegen tötet, um sich der Ergreifung durch Flucht zu entziehen. Bei dieser Motivlage fehle es an einer auf Verdeckung gerichteten Absicht des Täters. In diesen Fällen werde allerdings das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Betracht zu ziehen sein. Entgegen der Auffassung der Strafkammer schließe der festgestellte Beweggrund der Angeklagten, durch das Verbringen des hilflosen Opfers an eine andere Stelle im Wald dessen Auffinden zu erschweren, um auf diese Weise hinlänglich Zeit für die Ausreise zu sichern, die Annahme von Verdeckungsabsicht nicht ohne weiteres aus. Denn diese Feststellung zur subjektiven Tatseite lasse gerade offen, ob die Angeklagten ausschließlich zur Absicherung ihrer Flucht agierten oder ob nicht auch das Bestreben handlungsleitend war, infolge der räumlichen Entfernung vom Tatort mit dem Überfall nicht als Tatbeteiligte in Verbindung gebracht zu werden.

Dass nach den Vorstellungen der Angeklagten auch ein Überleben des Tatopfers möglich war, stehe einer Verdeckungsabsicht der Angeklagten ebenfalls nicht entgegen. Denn eine Sachverhaltskonstellation, in welcher ein lediglich bedingter Tötungsvorsatz des Täters das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ausschließe, weil nach den maßgeblichen Tätervorstellungen ein Verdeckungserfolg nur durch den Tod des Opfers erreichbar erscheint, sei nach den Feststellungen nicht gegeben (BGH NStZ 2019, 605 f. = StV 2020 91 ff.).

c) Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz

Eine Fallkonstellation der zuvor genannten Art lag dem 2. Strafsenat des BGH zur Entscheidung vor.

Der Angeklagte hatte sein – ihm seit langer Zeit bekanntes – Opfer in dessen Wohnhaus (zumindest bedingt vorsätzlich) getötet. Das LG hatte für den konkreten Tathergang alternativ vier mögliche Tatabläufe festgestellt, wobei es dem Angeklagten bei dem körperlichen Übergriff in jedem Fall um die Erlangung von Geld bzw. den Erhalt des Besitzes an Geld gegangen sei. Eine solche wahldeutige Tatsachengrundlage sei rechtlich möglich, so der BGH, sofern sämtliche Sachverhaltsvarianten eines der Mordmerkmale erfüllten.

Dies sei für die Annahme der Variante der Verdeckungsabsicht aber nicht der Fall. Hier war das Zusammentreffen von Verdeckungsabsicht und bedingtem Tötungsvorsatz entscheidend. Diese könnten zwar auch zusammen bestehen, so u.a. dann, wenn die maßgebliche Handlung vom Täter vorgenommen werde, um eine vorangegangene Straftat zu verdecken, dieser Erfolg nach seinem Vorstellungsbild aber auch ohne den Eintritt des für möglich gehaltenen und billigend in Kauf genommenen Todeserfolgs bewirkt wird, der bedingt vorsätzlich herbeigeführte Tod des Opfers mithin keine verdeckungsspezifische Funktion aufweise. Gehe der Täter dagegen davon aus, dass nur der Tod des Opfers zur Vortatverdeckung führe, könnten Verdeckungsabsicht und lediglich bedingter Tötungsvorsatz nicht nebeneinander angenommen werden. Das LG habe nicht ausgeschlossen, dass dem bedingt vorsätzlich herbeigeführten Tod des Opfers aus der Sicht des Angeklagten eine verdeckungsspezifische Funktion zukam, denn Täter und Opfer waren gut miteinander bekannt (BGH NStZ-RR 2021, 171 f.).

II.Totschlag, § 212 StGB

In einer Entscheidung aus dem Jahr 2021 führt der 1. Strafsenat seine Rechtsprechung fort (vgl. NStZ 2015, 582), wonach auch seelische Misshandlungen für eine Anwendbarkeit der Strafzumessungsregel des § 213 Alt. 1 StGB ausreichen können.

Die Angeklagte führte eine lange, von Streit, niederschwelliger Gewalt und Provokationen seitens des späteren Tatopfers geprägte Beziehung. Am Tattag versetzte das Opfer der Angeklagten eine leichte Ohrfeige, zerschlug ihr Handy und packte sie fest am Unterkiefer. Nachdem sich die Angeklagte befreien konnte, stach sie – ohne Rechtfertigungsgrund – mit einem Küchenmesser auf ihren Partner ein, der hieran verstarb.

Der BGH monierte die Ablehnung eines minder schweren Falls. Trotz des mit § 223 Alt. 1 StGB übereinstimmenden Wortlauts „Misshandlung“ setze die Strafzumessungsregel des § 213 Alt. 1 StGB nicht das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzung einer Körperverletzung voraus. Daher ist ein Verletzungserfolg nicht erforderlich, auch seelische Misshandlungen können genügen. Entscheidend sei nicht, in welchem Umfang das körperliche Wohlbefinden des Täters des Totschlags beeinträchtigt wäre, sondern ob die diesem zugefügten Misshandlungen nach ihrem Gewicht und den Umständen des Einzelfalls geeignet sind, die „Jähtat als verständliche Reaktion“ auf das provozierende Verhalten des anschließend getöteten Opfers erscheinen zu lassen.

Ob der vorausgehende Angriff durch das Opfer ausreichendes Gewicht habe, sei auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller dafür maßgebenden Umstände, namentlich unter Berücksichtigung der bisherigen Täter-Opfer-Beziehung und der damit verbundenen Motivationsgenese, zu beurteilen. Die Anwendung des § 213 StGB könne auch dann geboten sein, wenn die tatauslösende Misshandlung für sich allein genommen zwar keine „schwere Unbill“, sie aber gleichsam der Tropfen sei, der das Fass zum Überlaufen bringe. Das gesamte provozierende Verhalten des Opfers sei einzubeziehen. Lediglich geringfügige Eingriffe in die körperliche oder seelische Unversehrtheit des Täters des Tötungsdelikts seien regelmäßig nicht von ausreichendem Gewicht, die Erheblichkeitsschwelle sei aber bei schmerzhaften Ohrfeigen überschritten (BGH NStZ-RR 2021, 280 f.).

III.Tötung auf Verlangen, § 216 StGB: ärztlich assistierte Selbsttötung

1. Arzt als Sterbebegleiter

Der Angeklagte, ein Arzt, hatte zwei hochbetagten Damen Medikamente für deren Selbsttötung überlassen und nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der beiden Frauen Rettungsmaßnahmen unterlassen. Das freisprechende Urteil des LG hat der 5. Strafsenat des BGH unbeanstandet gelassen. Weder sei in diesem Fall eine Strafbarkeit wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft bzw. durch Unterlassen noch eine solche wegen (versuchter) Tötung auf Verlangen gegeben.

Die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbsttötung erfülle nicht den Tatbestand eines Tötungsdelikts. Für die Abgrenzung einer – dementsprechend mangels rechtswidriger Haupttat straflosen – Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung eines anderen, gegebenenfalls auf dessen ernsthaftes Verlangen, komme es darauf an, wer das zum Tod führende Geschehen zuletzt beherrsche. Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Letzteres sei hier der Fall gewesen. Zwar habe der Angeklagte die beiden Frauen über die Einnahme der Medikamente beraten und diese bei der Herstellung der tödlichen Medikamentenlösung unterstützt.

Nach den Feststellungen führten die Suizidentinnen aber den lebensbeendenden Akt eigenhändig aus, indem sie die Flüssigkeiten tranken und damit das zum Tod führende Geschehen bis zuletzt selbst beherrschten. Die Selbsttötungshandlungen seien dem Angeklagten auch nicht nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen, denn die Suizidentinnen hätten nicht unfrei gehandelt i.S.e. Benutzung als „Werkzeug gegen sich selbst“, sondern hatten ihren Sterbewillen ohne Mängel in Bezug auf ihre Einsichts- und Urteilsfähigkeit gefasst.

Eine Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen scheitere, so der BGH, an der erforderlichen Garantenstellung des Angeklagten. Denn es habe zwischen den Beteiligten kein Arzt-Patientinnen-Verhältnis bestanden, mit den Suizidentinnen war lediglich vereinbart, sie bei ihrem Sterben zu begleiten; eine Beschützergarantenstellung für ihr Leben oblag ihm daher nicht (BGH NStZ 2019, 638 ff.; MedR 2020, 120 ff.; StV 2020, 106 ff.).

2. Medikamente zur Schmerzlinderung

In einem ähnlich gelagerten Fall hatte der Angeklagte, Hausarzt der Suizidentin, diese jahrelang behandelt und ihr nach der eigenhändigen Einnahme der tödlichen Tablettendosis Medikamente zur Schmerzlinderung während des Sterbens verabreicht.

Hier bejahte der 5. Strafsenat zwar ein Arzt-Patienten-Verhältnis, verneinte jedoch eine Garantenstellung. Diese Pflichtenstellung als Hausarzt endete spätestens, als die Frau ihren Sterbewunsch (nochmals) äußerte und diesen mit der von dem Angeklagten akzeptierten Bitte verband, er solle „sie nach Einnahme der Tabletten zu Hause betreuen“. Entsprechend dieser Vereinbarung oblag es ihm nur noch, als Sterbebegleiter etwaige Leiden oder Schmerzen während des Sterbens zu lindern oder zu verhindern.

Die (Patienten-)Autonomie, die Entscheidungen über das Geschehenlassen des eigenen Sterbens umfasst, hat in der jüngeren Vergangenheit in Abwägung mit dem Auftrag zum Schutz des menschlichen Lebens eine erhebliche Aufwertung erfahren. Selbst bei lebenswichtigen ärztlichen Maßnahmen schützt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten eine Entschließung, die aus medizinischen Gründen unvertretbar erscheint. Jeder einwilligungsfähige Kranke hat es danach in der Hand, eine lebensrettende Behandlung zu untersagen und so über das eigene Leben zu verfügen. Darüber hinausgehend gebietet es die Würde des Menschen, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. Mit der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung in § 1901a BGB hat der Gesetzgeber die Verbindlichkeit des Willens des Patienten für Behandlungsentscheidungen über den Zeitpunkt des Eintritts seiner Einwilligungsunfähigkeit hinaus klarstellend anerkannt, wobei es auf Art und Stadium der Erkrankung nicht ankomme (BGH StV 2020,111 ff.; NStZ 2019, 666 ff.)

IV.Fahrlässige Tötung, § 222 StGB

1. Zurechenbarkeit des Todes von Rettungskräften

Der Angeklagte hatte auf dem BASF-Werksgelände eine Gasleitung aufgrund einer von ihm zu vertretenden Verwechslung mit einem Trennschleifer bearbeitet. Der dadurch entfache Großbrand löste wiederum eine Explosion aus, die vier Feuerwehrleute das Leben kostete.

Der 4. Strafsenat sah die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung als nicht zu beanstanden an. Zutreffend habe das LG als objektive Sorgfaltspflichtverletzung bewertet, dass der Angeklagte die Arbeiten durchführte, obwohl er die Möglichkeit und die Pflicht gehabt hätte, sich zu orientieren und das zu bearbeitende Rohr unter anderem anhand der Markierungen zutreffend festzustellen. Die Zurechenbarkeit des Todes und der Verletzung der Opfer sei ebenfalls rechtsfehlerfrei bejaht worden.

Die Zurechnung der Tötungs- und Verletzungserfolge entfalle auch nicht nach den Grundsätzen der bewussten Selbstgefährdung. Nach den Grundsätzen der bewussten Selbstgefährdung sei im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte ein Verletzungserfolg einem Dritten, der dafür eine Ursache gesetzt hat, möglicherweise dann nicht zuzurechnen, wenn der Erfolg die Folge einer bewussten, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die Mitwirkung des Dritten in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungsaktes erschöpft hat. Jedoch ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Grundsatz der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung nicht schematisch anzuwenden, sondern unter anderem in solchen Fällen einzuschränken, in denen sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage veranlasst sieht, in das Geschehen rettend einzugreifen und dadurch selbst geschädigt wird. Dieser für die Konstellation eines freiwillig eingreifenden Dritten entwickelte Rechtsgrundsatz sei auf die Zurechnung der Schäden solcher Personen übertragbar, die rechtlich aufgrund von Berufspflichten zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und sich in Erfüllung dieser Rechtspflicht selbst gefährden. Bei berufsmäßigen Rettern komme hinzu, dass sie aufgrund ihrer höheren Fachkompetenz und des damit einhergehenden geringeren Verletzungsrisikos verpflichtet seien, höhere Risiken einzugehen, so dass der Täter auch mit gefährlichen Rettungsmaßnahmen rechnen müsse. Ebenso wie dem Täter beim Gelingen der Rettungshandlung des pflichtigen Retters die Erfolgsabwendung zugutekomme, habe er im Fall des Misserfolgs dafür einzustehen. Maßgeblich sei die Ex-ante-Sicht der betroffenen Rettungskräfte, die hier den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zur Brandstelle einhielten und die hohe Explosionsgefahr nicht kannten (BGH StraFo 2021, 522 f. = NJW 2021, 3340 ff.).

2. Garantenpflicht und Pflichtwidrigkeit für Sozialdienstmitarbeiter

Mit der Frage, wie weit eine strafrechtliche Verantwortung für Mitarbeiter des Jugendamts reicht, wenn ein Kind infolge von Verwahrlosung stirbt, hat sich das OLG Hamm befasst.

Die Angeklagte hatte trotz entsprechender Hinweise des Jugendamts das Gefährdungsrisiko für zwei Kleinkinder aufgrund von Untätigkeit nicht erkannt, eines der Kinder verstarb infolge von Unterernährung und Dehydrierung im Krankenhaus. Gegen ihre Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung legte die Angeklagte Revision ein. Das OLG verwarf die Revision.

Die Vorinstanz habe rechtsfehlerfrei das Bestehen einer Garantenpflicht sowie einen fahrlässigen Verstoß gegen diese angenommen. Dass aus den Schutzpflichten eines staatlichen Gewährträgers, bei dem die Angeklagte beschäftigt war, eine strafrechtliche Garantenpflicht für dessen Mitarbeiter erwächst, ist bereits vor Inkrafttreten des § 8a SGB VIII unstreitig gewesen. Umstritten sei allerdings, ab welchem Stand der Sachverhaltsaufklärung die Garantenpflicht zum Tragen komme. Nach vermittelnder Ansicht löse der Erstkontakt zur Familie oder sich aus den sozialrechtlichen Vorschriften ergebende Aufklärungspflichten noch keine strafrechtliche Garantenpflicht aus. Der jeweilige Jugendamtsmitarbeiter solle nach dieser Ansicht jedoch dann zum Garanten für das Kind werden, wenn objektiv eine (erkennbare) dringende Gefahr für das Kind entsteht, die infolge des Unterlassens von Aufklärungsmaßnahmen unerkannt blieb.

Dass eine Garantenpflicht auch aus pflichtwidrig unterlassener Sachverhaltsaufklärung erwachsen könne, ergebe sich insbesondere aus den anerkannten Regeln zu den Fällen der sogenannten „omissio libera in causa“. Danach entfalle eine Strafbarkeit wegen Unterlassens nicht, wenn der Handlungspflichtige zwar zum Zeitpunkt, in dem sein Handeln erforderlich wäre, tatsächlich nicht handeln könne, sein pflichtwidriges Verhalten jedoch praktisch vorverlagert ist. Nichts anderes gelte, wenn wie hier die Unmöglichkeit des gebotenen Handelns auf pflichtwidrig herbeigeführter Unkenntnis der Gefährdungslage beruhe. Die Angeklagte habe nach den Feststellungen eine Gefährdungseinschätzung bezüglich des verstorbenen Kindes über einen Zeitraum von mehreren Monaten nicht vorgenommen, obwohl dies aufgrund der ihr bekannten Umstände geboten und ihr auch möglich und zumutbar gewesen wäre. Gewichtige Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung seien ihr bekannt gewesen (OLG Hamm medstra 2021, 108 ff.).

3. Generalpräventive Erwägungen bei der Strafzumessung

Das OLG Dresden beanstandete in einem Revisionsverfahren, dem eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und Straßenverkehrsgefährdung infolge von Trunkenheit vorausgegangen war, die Strafzumessung. Der Senat weist in seiner kurzen Entscheidung darauf hin, dass im Rahmen der Strafzumessung auch die Generalprävention als Strafzweck anerkannt sei. Es sei anerkannt, dass der Schutz der Allgemeinheit durch Abschreckung nicht nur des Angeklagten, sondern auch anderer möglicher künftiger Rechtsbrecher eine schwerere Strafe rechtfertigt, als sie sonst angemessen wäre, wenn eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt worden ist. Im vorliegenden Fall fehle es jedoch an der Feststellung, dass derartige Straftaten wie das Fahren unter Alkoholeinfluss, bei dem Menschen zu Tode kommen, zugenommen hätten. Da die diesbezüglichen Zahlen seit Jahren rückläufig seien bzw. stagnierten, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um eine allgemein bekannte Tatsache handele (OLG Dresden zfs 2020, 525 f.).

Rechtsanwalt Christian Lorenz, Berlin

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