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Pflichtverteidiger wegen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

1. Bei einem einfach gelagerten Schuldvorwurf, der sich auf ein Geständnis des Angeklagten gründet, scheidet ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen Schwierigkeit der Sachlage regelmäßig auch dann aus, wenn das AG den Angeklagten ohne nachvollziehbare Begründung freispricht und die Staatsanwaltschaft sich hiergegen mit dem Rechtsmittel der Berufung wendet.

2. Die Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass in der Berufungshauptverhandlung kein Verteidiger mitgewirkt hat, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung wegen Schwierigkeit der Rechtslage nach § 140 Abs. 2 StPO vorgelegen habe, weil ein Verwertungsverbot nach § 252 StPO in Betracht komme, setzt jedenfalls in Fällen, in denen der Tatrichter von „spontan“ gemachten Angaben des zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen ausgeht, einen Vortrag voraus, aus dem sich die konkrete Aussagesituation ergibt.

3. Eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Sachlage nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich machen könnte, ist nicht gegeben, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hatte.

(Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 25.11.2021 – 202 StRR 132/21

I. Sachverhalt

Gegen den vielfach vorbestraften und zur Tatzeit unter Bewährung stehenden Angeklagten wurde wegen des Verdachts des Handeltreibens mit BtM in nicht geringer Menge ermittelt. Dieser Vorwurf bestätigte sich nicht, jedoch räumte der Angeklagte im Ermittlungsverfahren gegenüber der Polizei in einer mit seinem Einverständnis ohne Verteidiger durchgeführten Beschuldigtenvernehmung den Besitz von 10 Gramm Marihuana ein. Es wurde deshalb Anklage zum AG erhoben. Am Schluss der Hauptverhandlung wiederholte er sein Geständnis aus dem Ermittlungsverfahren, dennoch sprach das AG ihn aus tatsächlichen Gründen frei.

Auf die Berufung der StA hob das LG das erstinstanzliche Urteil auf und verhängte gegen den Angeklagten wegen Besitzes von BtM die Freiheitsstrafe von drei Monaten, wobei ihm Strafaussetzung zur Bewährung versagt blieb.

In der Berufungshauptverhandlung hatte der Angeklagte das Geständnis nicht wiederholt und stattdessen den Tatvorwurf pauschal bestritten. Die Berufungskammer stützte ihre Überzeugung im Wesentlichen auf das im Ermittlungsverfahren und vor dem AG abgelegte Geständnis. Für dessen Richtigkeit zog es indiziell u.a. auch die im Ermittlungsverfahren „auf eigene Initiative spontan gemachten“ Angaben der Mutter des Angeklagten gegenüber einem Polizeibeamten heran. In der Berufungshauptverhandlung hatte die Mutter von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Die gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision des Angeklagten, die u.a. darauf gestützt wurde, dass ihm für die Berufungshauptverhandlung kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden war, hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des BayObLG ergibt sich die Notwendigkeit der Verteidigung weder aus der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge noch aus der Schwierigkeit der Rechtslage. Sowohl der dem Angeklagten zur Last gelegte Sachverhalt als auch die Nachweisbarkeit der Tat seien denkbar einfach gelagert. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass das AG zu einem Freispruch gelangt war.

Zwar stimmt der Senat der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass für die Berufungsverhandlung ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn die StA gegen ein freisprechendes Urteil vorgeht, grundsätzlich zu. Vorliegend lägen jedoch derart gewichtige Besonderheiten vor, dass von einem Ausnahmefall ausgegangen werden müsse. In Anbetracht des im Ermittlungsverfahren abgelegten und überdies nach Schluss der Beweisaufnahme vor dem AG wiederholten Geständnisses handele es sich um eine völlig einfach gelagerte Beweiskonstellation, angesichts derer der erstinstanzliche Freispruch nicht mehr nachvollziehbar sei.

Zudem erteilt der Senat dem Vorbringen der Revision, es habe der Aktenkenntnis bedurft, um Zeugen sachdienlich befragen zu können, eine Absage. § 147 Abs. 4 StPO sehe ein eigenes Akteneinsichtsrecht des Angeklagten vor. Zudem sei nicht dargetan, welche konkreten Erkenntnisse die Akteneinsicht für die sachgerechte Verteidigung des Angeklagten hätte erbringen sollen.

Der weitere Vortrag der Revision, wonach die Rechtslage schwierig sei, da das LG den Angaben der Mutter des Angeklagten gegenüber der Polizei im Hinblick auf die Richtigkeit des Geständnisses zusätzliche indizielle Bedeutung beigemessen hatte, genüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Revision habe nicht vorgetragen, wie die Aussagesituation bei den Angaben der Mutter im Ermittlungsverfahren konkret war. Derartige Ausführungen seien jedoch schon deshalb erforderlich, weil es sich bei einer Spontanäußerung, von der die Berufungskammer ausgegangen war, nicht um eine von § 252 StPO umfasste Vernehmung handele, sodass sich die Frage nach einem Verwertungsverbot in einem derartigen Fall gar nicht stellte. Der Senat könne daher nicht beurteilen, ob überhaupt ein Verwertungsverbot in Betracht kam. Es sei nicht ersichtlich, dass es sich um eine Vernehmung im Rechtssinne und nicht um eine vom LG angenommene spontane Äußerung gehandelt hat.

Schließlich liege auch kein Verstoß gegen § 141a StPO vor. Zwar sei dem Angeklagten zu Beginn der Ermittlungen ein Verbrechen zur Last gelegt worden, jedoch verbiete § 141a StPO Vernehmungen nur, wenn die Prämissen des § 141 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO erfüllt seien. Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen, da der Angeklagte nach Belehrung über seine Rechte in Bezug auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers aussagebereit gewesen sei, ohne die Hinzuziehung eines Verteidigers zu beantragen.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Angesichts des im Ermittlungsverfahren abgelegten und in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung wiederholten Geständnisses leuchtet ein, dass der Senat das freisprechende Urteil des AG für nicht nachvollziehbar erachtet.

Auch war die Revision offensichtlich schwach begründet, was schon der ersichtlich abwegige Verweis auf Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen (bei einem geständigen Angeklagten!) zeigt. Auch kann seit der Änderung des § 147 Abs. 4 StPO, die bereits zum 1.1.2018 erfolgte, nicht mehr pauschal mit dem Erfordernis von Akteneinsicht argumentiert werden. Vielmehr muss ausführlich dargelegt werden, dass dem Beschuldigten mit dem ihm seit der Reform zustehenden eigenen Akteneinsichtsrecht nicht geholfen ist, da er die Akten zwar einsehen, deren Inhalt aber nicht verwerten kann und deshalb des Beistands eines Verteidigers bedarf. Darüber hinaus hätte auch dazu vorgetragen werden müssen, weshalb die Angaben der Mutter entgegen den Ausführungen im Berufungsurteil doch von § 252 StPO erfasst sein sollen.

2. Obwohl dem Senat in den vorgenannten Punkten nicht zu widersprechen ist, erscheint die Ablehnung der Verteidigerbestellung im Ergebnis bedenklich. Zwar wird das in der Tat nicht nachvollziehbare freisprechende Urteil des AG angesichts des einfach gelagerten Sachverhalts die Notwendigkeit der Verteidigung ausnahmsweise nicht begründen können; mit der Frage der Verwertbarkeit der Angaben seiner Mutter und der Beurteilung der Frage, ob die Angaben in den Anwendungsbereich des § 252 StPO fallen oder nicht, dürfte der Angeklagte jedoch überfordert sein. Insoweit hilft ihm auch das eigene Akteneinsichtsrecht nicht weiter.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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