Beitrag

(Zulässige) Unterrichtung des Beschuldigten über den Akteninhalt durch den Verteidiger

Der Verteidiger ist in der Regel berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er aus den Akten erfahren hat. Es ist ihm daher nicht schlechthin verboten, seinen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren und ihm etwa auch darauf gerichtete, aus den Akten ersichtliche Schritte mitzuteilen.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Jena, Beschl. v. 18.1.2022 – 1 Ws 487/21

I. Sachverhalt

Die Rechtsanwältin verteidigte in einem BtM-Verfahren. In dem fand am 2.6.2021 in der Wohnung des Beschuldigten eine Wohnungsdurchsuchung statt, in deren Zuge u.a. BtM aufgefunden wurden. Mit Verfügung der StA vom 7.6.2021 wurde gegen den Beschuldigten beim AG Erfurt der Erlass eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls beantragt und zugleich angeordnet, dass eine Duploakte erstellt, der Rechtsanwältin auf deren Akteneinsichtsgesuch Akteneinsicht gewährt und hierzu die erstellte Duploakte der Verteidigerin sowie die Originalakte dem AG mit dem Antrag, Haftbefehl gemäß einem beiliegendem Haftbefehlsentwurf zu erlassen, übersandt werden sollten. Der Haftbefehl wurde am 7.6.2021 erlassen. Der Rechtsanwältin wurden per Post die Duploakten – in denen sich auch der Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft befand – übersandt, die sie am 10.6.2021 erhielt. Bei einer am 5.10.2021 im Rahmen der Vollstreckung des Haftbefehls in der Wohnung des dort nicht aufhältigen Beschuldigten erfolgten Durchsuchung wurde auf dem Tisch im Wohnzimmer eine – zwei jeweils in der rechten oberen Ecke handschriftlich mit den Seitenzahlen 118 und 119 versehene Seiten umfassende – Kopie des Entwurfes des Haftbefehls des AG vom 7.6.2021, vom Richter nicht unterzeichnet, gefunden.

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung (§ 258 StGB) gegen die Rechtsanwältin ein. Der Beschuldigte befand sich inzwischen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 9.12.2021 beantragte die Staatsanwaltschaft beim AG, gemäß § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO die Rechtsanwältin als (Pflicht-)Verteidigerin von der Mitwirkung im OLG auszuschließen. Das AG hat das dann mit Vorlagebeschluss vom 15.12.2021 beantragt und die Akten dem OLG vorgelegt. Die GStA beim OLG ist dem Antrag beigetreten. Das OLG hat den Antrag zurückgewiesen

II. Entscheidung

Nach Auffassung des OLG ist die Vorlage bereits unzulässig; weil sie den Ausschließungsgrund nicht schlüssig darlege. Das dargelegte Handeln der Verteidigerin, das den objektiven und subjektiven Tatbestand der versuchten Strafvereitelung erfüllen solle, lege einen Tatverdacht in dem nach § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße nicht schlüssig dar. Ein entsprechender Tatverdacht für eine zumindest versuchte Strafvereitelung ergebe sich in dem nach § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft sowie dem nachfolgend ergangenen Vorlagebeschluss des AG nicht. Dazu führt das OLG wörtlich aus:

„Die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozess und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion erfordert eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Denn der Beschuldigte hat nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK Anspruch auf konkrete und wirkliche Verteidigung, der ernsthaft gefährdet wäre, wenn der Verteidiger wegen einer prozessual zulässigen Verteidigungstätigkeit selbst strafrechtlich verfolgt würde.

Prozessual zulässige Handlungen des Verteidigers können bereits nicht tatbestandsmäßig sein (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 28 Rn 17 m.w.N.). Eine sachgerechte Strafverteidigung setzt dabei voraus, dass der Beschuldigte weiß, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf stützt. Der Verteidiger ist deshalb in der Regel auch berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er aus den Akten erfahren hat (vgl. L-R/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 147 Rn 141 m.w.N.). Im gleichen Umfang, wie er ihm den Akteninhalt mitteilen darf, ist er prozessual auch berechtigt, den Beschuldigten über das Verfahren zu unterrichten und ihm sogar Aktenauszüge und Abschriften aus den Akten auszuhändigen (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., m.w.N.). Ausnahmen kommen von diesem Grundsatz grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Information des Mandanten zu verfahrensfremden Zwecken erfolgt oder der Untersuchungszweck gefährdet würde oder dies zu befürchten ist (vgl. BGHSt 29, 99, 103). Dies ist aber stets von den Umständen des Einzelfalles abhängig (so ausdrücklich BGH a.a.O.), womit sich jegliche generalisierende Betrachtung von vornherein verbietet. Deshalb wird in der Rechtsprechung zu Recht differenziert; ob der Verteidiger die weiter übermittelte Kenntnis des Bestehens eines von den Ermittlungsbehörden geheim gehaltenen Haftbefehls bzw. Haftbefehlsentwurfs in zulässiger, zufälliger oder unzulässiger Weise erlangt hat (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 17.2.1987 – (33) 28/96 Ns, 51 Js 85/84, bei juris).

c) Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwältin pp. in objektiv unlauterer Art und Weise, bspw. durch Täuschung, sich bei den Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf verschafft hat, ergeben sich aus der Vorlage aber gerade nicht. Denn die teilt ausdrücklich mit, dass die Duploakten per Post an Rechtsanwältin pp. versandt worden. sind, „versehentlich“ mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Erfurt auf Erlass eines Haftbefehls, weshalb Rechtsanwältin pp. in zulässiger Weise Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf erhalten halt.

Die Auffassung, dass es einem Verteidiger schlechthin verboten ist, seinen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren und ihm etwa auch darauf gerichtete, aus den Akten ersichtliche Schritte mitzuteilen, findet im Gesetz aber keinen Anhalt. Der Verteidiger ist auch als Organ der Rechtspflege in der Regel nicht gehalten, im Ablauf derartiger Maßnahmen der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht einschließlich seiner Geschäftsstelle unterlaufende Fehler (etwa hinsichtlich eines in den Akten befindlichen Haftbefehls) durch Geheimhaltung ihm durch Akteneinsicht bekanntgewordener Vorgänge gegenüber seinem Mandanten auszugleichen (vgl. OLG Hamburg a.a.O., juris = BRAK-Mitt. 3/1987, S. 163 mit zust. Anm. DahsJahn. a.a.O., § 147 Rn 143 m.w.N.). Denn dies liefe darauf hinaus, dass der Verteidiger die Beurteilung der Verfolgungsbehörde zu korrigieren hätte, die ja gegebenenfalls nach § 147 Abs. 2 S. 1 StPO die Akteneinsicht grundsätzlich hätte verweigern dürfen. Das Gegenargument, die Akteneinsicht werde dem Verteidiger im Vertrauen auf eine gewisse Solidarität mit der Strafverfolgungsbehörde gewährt, ist schon mit Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht haltbar. Die Klausel des § 147 Abs. 2 StPO ist nämlich überhaupt nur deswegen in das Gesetz aufgenommen worden, weil als selbstverständlich unterstellt worden ist, dass der Verteidiger seinen Mandanten über den Akteninhalt informieren werde (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., § 147 Rn 144 m.w.N.).

d) Selbst wenn – wie aber nach dem Vorgenannten nicht – anzunehmen wäre, dass die (auf das Vorhandensein eines etwaigen Haftbefehlsentwurfs ungeprüfte) Weiterleitung der zur Akteneinsicht übersandten Duploakte mit dem dort enthaltenen Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft an den Beschuldigten die Grenze prozessualer Zulässigkeit – in deren Rahmen schon der objektive Tatbestand des § 258 StGB nicht erfüllt ist – überschritten hätte, wären nach dem im Vorlageantrag und -beschluss mitgeteilten Sachverhalt Feststellungen zur subjektiven Seite des Tatbestands des § 258 Abs. 1 und 4 StGB im Sinne einer Vereitelungsabsicht – an die bei einem Verteidigerhandeln erhöhte Beweisanforderungen zu stellen sind (vgl. BGHSt 46, 53) – nicht zu treffen. Soweit der Vorlagebeschluss in Bezug auf die Erfüllung des subjektiven Tatbestands der versuchten Strafvereitelung hierzu ausführt, die Verteidigerin habe mit Absicht gehandelt, sie habe durch die – den Untersuchungszweck gefährdende – Weiterleitung des in der seit 10.6.2021 in ihrem Besitz befindlichen Akte enthaltenen Entwurfs des Haftbefehls, von dessen Erlass sie habe ausgehen können, eine Besserstellung des Beschuldigten (sich der Festnahme für geraume Zeit zu entziehen) erstrebt, sind über die hier lediglich erfolgte Weiterleitung der den Haftbefehlsentwurf enthaltenden Verfahrensakte hinausgehende Tatsachen, aus denen sich eine solche Zielrichtung der Verteidigerin herleiten ließe, aus dem Vorlagebeschluss in Verbindung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht ersichtlich. Abgesehen davon, dass schon nicht festzustellen ist, dass die Verteidigerin bei Weiterleitung Kenntnis von dem in der Duploakte; BI. 118 f., befindlichen Haftbefehlsentwurf gehabt hatte und sie auch nicht gehalten war, die ihr zur Akteneinsicht überlassene Duploakte vor Weiterleitung an den Beschuldigten auf darin ggfls. vorhandene Entscheidungsentwürfe einzusehen bzw. zu kontrollieren, bestehen Anhaltspunkte für eine Vereitelungsabsicht nicht. Denn soweit im Vorlagebeschluss darauf abgestellt wird, für eine solche spreche bereits der Umstand, dass – wie es der Fall war – allein die Kopie des aus zwei Seiten bestehenden Haftbefehlsentwurfs (und nicht auch weitere Aktenbestandteile/Kopien) am 5.10.2021 in der Wohnung des Beschuldigten aufgefunden wurde, ist die hieraus gezogene Schlussfolgerung, die Verteidigerin habe allein die Kopie des Haftbefehlsentwurfs dem Beschuldigten übergeben/übersandt, keinesfalls zwingend und letztlich auch nicht ausreichend tatsachenbasiert. Denn das Vorbringen lässt die nicht fernliegende Möglichkeit gänzlich unberücksichtigt, dass dem Beschuldigten die komplette Verfahrensakte von Rechtsanwältin pp. elektronisch zur Verfügung gestellt worden ist und er sich selbst den Haftbefehlsantrag ausgedruckt hat.

Wie durch ihren Verteidiger mitgeteilt, erfolgte die Zurverfügungstellung der gesamten Verfahrensakten an den Beschuldigten durch Rechtsanwältin pp. (wie auch sonst üblich) mittels „Webakte“ dergestalt, dass die Akte in der Kanzlei gescannt und über die Anwaltssoftware dem Beschuldigten an die für diesen hinterlegte E-Mail-Adresse gesandt worden ist, mit der sich daraus für diesen ergebenden Möglichkeit, Einsicht in die Akte zu nehmen, sie herunterzuladen und ggfls. auch (einzelne Seiten) auszudrucken.

Vor diesem Hintergrund hätte zur Schlüssigkeit des Ausschlussbegehrens eine nähere Darlegung der Umstände gehört, die der Verteidigerin vorwerfen ließen, außerhalb in ihrer Amtsführung liegender rechtmäßiger Erwägungen mit der Mitteilung des Haftbefehlsantrags an den Beschuldigten auf dessen Flucht i.S.v. § 258 StGB hingewirkt oder ihm dazu verholfen zu haben.“

III. Bedeutung für die Praxis

1. Vorab: Ausnahmsweise ist der Beschluss abweichend von der sonstigen Verfahrensweise teilweise im Volltext eingestellt. Die Bedeutung der Entscheidung für die Verteidigungspraxis rechtfertigt das.

2. Festzuhalten ist: Die Vorlage ist nicht nur unbegründet, sondern bereits unzulässig. Deutlicher kann m.E. die Abfuhr an GStA, StA und AG durch das OLG kaum noch ausfallen. Man fragt sich, was GStA, StA und AG geritten hat, die entschiedene Frage zum OLG zu tragen. Denn das entschiedene Problem ist ein nicht nur alter, sondern ein uralter Hut: Der Verteidiger darf Informationen aus der Akte an den Mandanten weitergeben. In den Fällen, in denen die Informationen „unredlich“ erlangt sind, mag etwas anderes gelten, aber das war hier nicht der Fall (zu allem a. Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 530 ff. m.w.N.). Sondern: Es war die „Dusseligkeit“ der StA, dass der Haftbefehlsentwurf der StA in der Akte geblieben ist, als man diese der Verteidigerin übersandt hat. Anstatt sich dann verschämt in die Ecke zu stellen und lieber das Mäntelchen des Schweigens über den Faux pas zu decken, hat man sich offenbar gedacht: Angriff ist der beste Weg der Verteidigung, machen wir doch aus dem Ganzen ein „Verteidigerausschlussverfahren“. Aber eben nicht mit dem OLG Jena, das sehr schön die seit langem vorliegende Rechtsprechung und Literatur zu der Frage zitiert und der GStA, der StA und dem AG unter die Nase reibt. Man fragt sich wirklich, ob man bei der GStA, der StA und dem AG nichts anderes zu tun hat, als solche Anträge zu schreiben.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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