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StRR-Kompakt 2022-01

Eröffnung des Hauptverfahrens: hinreichender Tatverdacht

Der für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderliche hinreichende Tatverdacht ist zu bejahen, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist. Der hinreichende Tatverdacht setzt eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verurteilung voraus; damit wird ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt, als dies beim dringenden Tatverdacht i.S.d. § 112 Abs. 1 S. 1 oder § 126a StPO der Fall ist

BGH, Beschl. v. 7.10.2021 – StB 31/21

Pflichtverteidiger: Zurückweisung des Beiordnungsantrags

Der Vorsitzende kann den Antrag auf Beiordnung eines bestimmten Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger zurückweisen, wenn dieser an geplanten Terminen nicht teilnehmen kann, die zur Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes mit Blick auf inhaftierte Mitangeklagte geboten sind.

BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – StB 35/21

Pflichtverteidiger: Gesamtstrafe

Die Schwelle für die Bestellung eines Pflichtverteidigers von einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist auch bei der Gesamtstrafenbildung maßgeblich, was selbst dann gilt, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird oder insoweit zumindest in Betracht kommt. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Straferwartung im anhängigen Verfahren die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflusst.

LG Marburg, Beschl. v. 9.11.2021 – 4 Qs 78/21

Aussage gegen Aussage: Urteilsgründe

Hält der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine ursprünglich erhobenen Vorwürfe zumindest teilweise nicht aufrecht, so dass insoweit ein Freispruch ergeht, ist das Tatgericht zwar nicht von vornherein gehindert, seine Überzeugung auf den aufrechterhaltenen Teil der Aussage des Zeugen zu stützen; regelmäßig müssen aber in einem solchen Fall – insbesondere, wenn eine bewusst falsche Aussage nicht ausgeschlossen werden kann – außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe festgestellt werden, wenn das Tatgericht der Aussage im Übrigen folgen will.

BGH, Beschl. v. 12.8.2021 – 1 StR 162/21

Berufungsverwerfung: schuldhafte Säumnis des Angeklagten

An den Voraussetzungen für eine Verwerfung der Berufung des säumigen Angeklagten gem. § 329 StPO mangelt es, wenn dieser einem Irrtum über den Terminsbeginn unterlegen ist, dieses dem Gericht noch vor Ablauf der grds. ausreichenden Wartezeit von 15 Minuten ab Aufruf der Sache mitteilt bzw. mitteilen lässt, zugleich sein unverzügliches Erscheinen innerhalb einer angemessenen Zeitspanne ankündigt und eine Verhandlung der Sache trotz der sich daraus ergebenden Verzögerung angesichts der konkreten Terminsgestaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist.

OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2021 – 1 Ws 425/21

Rechtsmitteleinlegung: Einlegung durch einfache E-Mail

Die einfache E-Mail eines Betroffenen, mit dem ein Rechtsmittel (hier: Rechtsbeschwerde) eingelegt wird, genügt nicht den Anforderungen des § 32a Abs. 3 StPO, auch wenn der Betroffene seine E-Mail zwar mit einer einfachen Signatur versieht, sie aber nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht hat. Zudem verstößt die Einreichung per E-Mail gegen § 32a Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 ERVV. Durch das Ausdrucken eines E-Mail-Anhangs, der das Rechtsmittel enthält, vor Ablauf der Rechtsmittelfrist ist jedoch die Schriftform gewahrt.

OLG Koblenz, Beschl. v. 18.11.2021 – 3 OWi 32 SsBs 119/21

Pflichtverteidiger: Schwierigkeit

Ist im Strafvollstreckungsverfahren gemäß § 57 StGB nicht nur zu beurteilen, ob beim Verurteilten eine günstige Prognose vorliegt oder nicht, sondern (vorab) auch die Frage zu klären, ob zur Verbesserung der Sozialprognose eine Therapiemaßnahme angezeigt ist oder nicht, welche Therapiemaßnahme – Sozialtherapie, Verhaltenstherapie oder Spielsuchttherapie – sinnvoll ist und ob eine entsprechende Therapiemaßnahme ambulant oder stationär durchzuführen ist, ist dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

LG Amberg, Beschl. v. 9.11.2021 – 2 StVK 916/20

U-Haft: Verhältnismäßigkeit

Befindet sich der Beschuldigte zum Zweck der Auslieferung im Ausland in Auslieferungshaft, führen dortige menschenunwürdige Haftbedingungen nicht zur Unverhältnismäßigkeit des nationalen Haftbefehls. Die Dauer der Auslieferungshaft ist bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des nationalen Haftbefehls zu berücksichtigen (Anschluss an KG, Beschl. v. 15.3.2019 – 4 Ws 24/19).

OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.11.2021 – Ws 1069–1070/21

Beschleunigtes Verfahren: Hauptverhandlungshaft

Da ein auf § 127b StPO gestützter Haftbefehl nur der Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren dient, darf ein solcher nicht mehr erlassen werden, wenn der Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren bereits durch – gem. § 419 Abs. 2 S. 2 StPO unanfechtbaren – Beschluss zurückgewiesen worden ist.

OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.11.2021 – 1 Ws 437/21

Kennzeichenmissbrauch: Gebrauchmachen

Ein Gebrauchmachen i.S.v. § 22 Abs. 2 StVG kann auch vorliegen, wenn ein Anhänger lediglich im öffentlichen Verkehrsraum am Straßenrand abgestellt wird.

BayObLG, Beschl. v. 3.11.2021 – 203 StRR 504/21

Trunkenheitsfahrt: Fahruntüchtigkeit

Voraussetzung für den Schluss auf eine alkoholbedingte Fahrunsicherheit eines Kraftfahrzeugführers ist die sichere Feststellung, dass sie Folge des Alkoholgenusses ist. Dabei sind, je weiter eine festgestellte Blutalkoholkonzentration von der Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit (1,1 Promille) entfernt ist, die Anforderungen an die für das Vorliegen einer relativen Fahruntüchtigkeit festzustellenden alkoholbedingten Ausfallerscheinungen umso höher.

LG Koblenz, Beschl. v. 25.11.2021 – 12 Qs 72/21

Entschädigung für unangemessene Verfahrensdauer

Die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 S. 2 GVG wegen unangemessener Verfahrensdauer beginnt im Fall der Erledigung eines Strafverfahrens durch Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mit dem Zeitpunkt der Verfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO und es kommt nicht auf das Datum der späteren Bekanntgabe an den Beschuldigten nach § 170 Abs. 2 S. 2 StPO an. Wird eine Einstellungsverfügung dem zuständigen Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft zur Billigung vorgelegt, erlangt sie Wirkung erst mit dem Datum der Billigung. Im Regelfall kann bei Einstellung eines Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nach erfolgter Anklageerhebung ein Zeitraum von einem Jahr und neun Monaten vom Eingang der Anklage bei Gericht bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anregung des Gerichts noch nicht als unangemessen angesehen werden.

OLG Bremen, Urt. v. 20.10.2021 – 1 EK 2/19

Pflichtverteidiger: Anspruch gegen den Beschuldigten

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Angeklagten i.S.d. § 52 RVG sind die wirtschaftlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung. § 90 SGB XII ist im Rahmen des § 52 Abs. 2 S. 1 RVG nicht anwendbar.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 3.11.2021 – 1 Ws 99/21 (S)

Vergütungsvereinbarung: Zeittaktklausel

Ein Zeittakt von fünf Minuten in einer Vergütungsvereinbarung (§ 3a RVG) ist nicht zu beanstanden. Ist in einer Vergütungsvereinbarung keine Abrechnung nach Zeittakt vereinbart worden, muss der Rechtsanwalt minutengenau abrechnen.

AG Waldkirch, Urt. v. 4.8.2021 – 1 C 214/20

Einziehung Führerscheinformular: zusätzliche Verfahrensgebühr

Die bloße anwaltliche Beratung darüber, dass im Falle der Wiedererteilung ein neues Führerscheindokument ausgegeben wird und dass mit Rechtskraftentziehung der Fahrerlaubnis das Führerscheindokument abzuliefern ist, führt noch nicht zum Anfall der Nr. 4142 VV RVG. Etwas anderes gilt jedoch, wenn sich die anwaltliche Tätigkeit und Beratung spezifisch auf Fragen im Zusammenhang mit dem Führerscheindokument richtet.

AG Amberg, Beschl. v. 4.12.2021 – 7 Cs 114 Js 5614/18 (2)

Corona-Hygienemaßnahmen: Sachverständigenkosten

Die Kosten eines Sachverständigen für die Einhaltung der Hygienemaßnahmen anlässlich einer Begutachtung während der Covid-19-Pandemie sind besondere Aufwendungen i.S.d. § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG. Liegt ein Einzelnachweis der Aufwendungen nicht vor, ist zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „notwendige besondere Kosten“ auf einen pauschalisierenden Ansatz zurückzugreifen. Für die Schätzung der Kosten ist auf Nr. 245 der Anlage Gebührenverzeichnis zur GOÄ zurückzugreifen, sodass sich ein Kostenansatz in Höhe von 6,41 EUR (einfacher Satz) netto ergibt.

LSG Hessen, Beschl. v. 15.11.2021 – L 2 SB 128/21 B

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