Der Senat erwägt zukünftig – gestützt auf die Entscheidung des BVerfG NJW 2021, 41 Rn 66 – einen Entbindungsantrag nur noch als prozessual wirksam anzusehen, wenn er „frühzeitig“, das heißt mindestens drei Werktage vor der Hauptverhandlung gestellt wird.
(Leitsatz des Verfassers)
OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 11.6.2021 – 2 Ss-OWi 440/21
I. Sachverhalt
Das AG hat den Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid wegen eines Abstandsverstoßes gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, da der von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene Betroffene zur Hauptverhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen war. Den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat der Verteidiger damit begründet, dass am Hauptverhandlungstag um 9.07 Uhr per Fax für die Hauptverhandlung um 13.40 Uhr ein Entbindungsantrag gestellt worden ist. In der Folge hätte keine Verwerfungs-, sondern eine Sachentscheidung ergehen müssen, bei der sein konkreter Sachvortrag, den er mit der Gehörsrüge dem Senat vorgelegt hat, hätte berücksichtigt werden müssen. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, das Urteil aufgehoben und den Betroffenen im Wege der eigenen Sachentscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG zu einer Geldbuße verurteilt.
II. Entscheidung
Nach § 73 Abs. 2 OWiG sei die Entscheidung über einen Antrag auf Entbindung von der Erscheinungspflicht nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt. Entspricht das Gericht dem Antrag nicht und verwirft es den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG, verletze es damit den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, weil statt der erstrebten Sachentscheidung eine reine Prozessentscheidung ergeht, in der das (ggf. nur schriftliche) Vorbringen des Betroffenen gerichtlich nicht gewürdigt wird (KG NZV 2007, 633 = zfs 2006, 709). Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn der Antrag nicht rechtzeitig gestellt wurde (OLG Rostock NJW 2015, 1770 = VRR 9/2015, 16 = StRR 2015, 314 [jew. Deutscher]). Die Frage, ob ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen ist, sei – angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht – nach derzeit vorherrschender Ansicht danach zu entscheiden, ob unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm Kenntnis hätte nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. Die reine Zeitspanne vom Antragseingang bis zum Hauptverhandlungstermin sei dabei nur ein Teilaspekt, wobei in diesem Zusammenhang die gewöhnlichen Geschäftszeiten des jeweiligen Gerichts nicht außer Acht zu lassen sind (OLG Bamberg NZV 2008, 259). Bei elektronischem Geschäftsverkehr sei zudem zu berücksichtigen, ob das Schreiben an den Anschluss der zuständigen Geschäftsstelle oder an einen allgemeinen Anschluss des Gerichts versandt wurde. Im letzteren Fall bedürfe es eines Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter (OLG Frankfurt am Main NJW 2021, 1109 = VRR 4/2021, 19 = StRR 6/2021, 33 [jew. Burhoff]).
Ob diese Grundsätze auch in den Ordnungswidrigkeitenverfahren noch aufrechterhalten werden können, sehe der Senat kritisch. Die von den OLG zu dem Begriff „rechtzeitig“ aufgestellten Grundsätze gingen von einem an der Sache orientierten, den Grundsätzen einer dem Verfahren dienenden Handlung eines seriösen Organs der Rechtspflege aus. Dies sei bei Parteiprozessen wie im Zivilrecht in der Regel gewährleistet. In Ordnungswidrigkeitsverfahren sei zunehmend festzustellen, dass diese Grundsätze sehr häufig nicht zur Grundlage des Handelns von Verteidigern gemacht werden, sondern erkennbar ausschließlich merkantile Interessen das Agieren bestimmten. Der Senat müsse seit Jahren vermehrt zur Kenntnis nehmen, dass in Ordnungswidrigkeitsverfahren Verfahrensrechte bewusst missbraucht werden, um so viel wie möglich an Gebühren zu generieren, ohne dass man sich überhaupt die Mühe mache, sachdienliche Handlungen auch nur vorzuspiegeln. Schriftsätze, die erkennbar aus computergenerierten Textfragmenten bestehen, ohne auch nur ansatzweise einen Zusammenhang mit dem Verfahren erkennen zu lassen, seien zunehmend keine Seltenheit. Eine andere erkennbar nur der Gebührenvermehrung dienende Methode sei der „Entbindungsantrag am Hauptverhandlungstermin“, mit dem bewusst und gewollt ein angreifbares Verwerfungsurteil erzeugt werden soll, weil in Kenntnis der überlasteten Gerichte davon ausgegangen werden kann, dass diese „Entbindungsanträge“ den zuständigen Richter nicht mehr rechtzeitig erreichen werden. Die Folge sei die Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung und damit die Erzeugung einer neuen Gebühr, ohne dass der Verteidiger überhaupt an einer Hauptverhandlung teilnimmt, weil auch das zweite Verfahren ein reiner Abwesenheitsprozess ist. Dass die Rechtsschutzversicherungen dieses auf Grundlage der bisherigen großzügigen Rechtsprechung zur „Rechtzeitigkeit“ offensichtlich missbräuchliche Agieren finanzieren, haben diese ihren Versicherungsnehmern und Aktionären gegenüber zu verantworten. Für den rechtsuchenden Bürger werde dieses Agieren aber dann zu einem Problem, wenn die Gerichte wegen derartiger Verfahren überlastet sind und ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr zeitnah nachkommen können, weil dringend notwendige Personal- und Raumkapazitäten für „Abwesenheitsverhandlungen“ vorgehalten werden müssen, nur weil der Verteidiger aus rein merkantilen Interessen keinen Gebrauch vom Beschlussverfahren, das ebenfalls eine Sachentscheidung darstellt, machen will. Der Senat erwäge daher, zukünftig – gestützt auf die Entscheidung des BVerfG NJW 2021, 41 Rn 66 – einen derartigen Entbindungsantrag nur noch als prozessual wirksam anzusehen, wenn er „frühzeitig“, das heißt mindestens drei Werktage vor der Hauptverhandlung gestellt wird.
Vorliegend könne die abschließende Entscheidung zu dieser Problematik dahinstehen, weil dem Verteidiger in diesem Verfahren ein solcher Vorwurf gerade nicht gemacht werden könne. Der Verteidiger habe eine zulässige Verfahrensrüge erhoben. Es sei seit zehn Jahren und bei in diesem Zeitraum ca. 12.000 Zulassungsverfahren beim Senat das erste Mal, dass sich ein Verteidiger in einer solchen Konstellation dieser Mühe unterzieht. Dessen hätte es nicht bedurft, wenn es vorliegend um verfahrensfremde Kostengenerierung gegangen wäre. In der Folge sei daher das Verwerfungsurteil des AG aufzuheben, weil der Entbindungsantrag nach der bisherigen Rechtsprechung noch rechtzeitig unter Hinweis auf die eilbedürftige Vorlage an den zuständigen Richter gestellt worden war.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist zugleich ein „Brandbeschluss“, eine Warnung an in Hessen tätige Verteidiger und ein Versuchsballon in Richtung der anderen Obergerichte. Nun ist das OLG Frankfurt durchaus für pointierte Stellungnahmen bekannt (etwa Probleme mit Poliscan Speed als bloßes „Scheinproblem“, zfs 2017, 714 = VRR 1/2018, 15 [Deutscher], oder die glorreiche Entdeckung der PTB-Zulassung als „antizipiertes Sachverständigengutachten“, DAR 2016, 152 m. Anm. Deutscher). Hier tritt nun aber deutliche Verzweiflung, gar Wut über vermeintlich nur aus monetären Gründen von Verteidigern gestellte Zulassungsanträge mit Gehörsrügen in einem obiter dictum zutage. Ist das aber berechtigt? Das OLG ächzt angeblich unter solchen ungehörigen Anträgen, gibt aber nur an, es sei das erste Mal, dass auch eine Verfahrensrüge in solchen Fällen erhoben werde. Dabei wird übersehen, dass bei einer Gehörsrüge im Zulassungsverfahren dies schlicht nicht erforderlich ist. Belastbare Zahlen zu den vermeintlichen Missbrauchsfällen gibt das OLG nicht. Nun gibt es wie in jedem Beruf auch bei Anwälten schwarze Schafe und das entgegen der Behauptung des OLG wohl auch im Zivilverfahren. Dem lässt sich in diesem Bereich aber mit der „Missbrauchs-Rechtsprechung“ bei der Gehörsrügenfalle hinreichend begegnen (OLG Rostock a.a.O.; OLG Hamm NZV 2016, 98 = VRR 9/2015, 17 = StRR 2015, 313 [jew. DeutscherDeutscher]). Nach meiner bald drei Jahrzehnte umfassenden Erfahrung im Umgang mit Verteidigern in Straf- und Bußgeldverfahren handelt es bei der weit überwiegenden Anzahl um seriöse Organe der Rechtspflege. Eine Pauschalverurteilung wie durch das OLG ohne brauchbare Belege ist unangebracht. Auch ist darauf hinzuweisen, dass Verfahrensregeln und Gebührengrundsätze vom Gesetzgeber aufgestellt werden, nicht von Gerichten. Bei überhandnehmendem Missbrauch ist es daher Sache des Gesetzgebers, durch entsprechende Rechtsänderungen hierauf zu reagieren. Schließlich: Der Rückgriff des OLG auf die Entscheidung des BVerfG zu Einsichtsrechten des Betroffenen beim standardisierten Messverfahren ist unverständlich. Das hat mit dem Verfahren nach § 74 OWiG nun rein gar nichts zu tun. Die Argumentation mit Rn 66 jener Entscheidung ist absurd: Dort ging es um die rechtzeitige Geltendmachung des Einsichtsrechts durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG. Und wie das OLG auf „drei Werktage“ kommt, bleibt unerfindlich.
Es bleibt abzuwarten, ob das OLG seine Androhung wahrmacht und wie die anderen Obergerichte sich dazu stellen werden. Sollte es so kommen, werden BGH und BVerfG sich mit der Frage früher oder später beschäftigen müssen.
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum