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Zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung wegen drohender Straferwartung

Über die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei seinem Beurteilungsspielraum durch den Rechtsbegriff der Schwere der Tat Grenzen gesetzt sind. Die Schwere der Tat beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Ab zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr ist ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben. (Leitsatz des Verfassers

LG Braunschweig, Beschl. v. 20.8.2020 – 9 Qs 159/20

I. Sachverhalt

Gegen den nicht vorbestraften Beschwerdeführer ermittelte die Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen mehrerer Delikte im Zusammenhang mit einer beendeten Beziehung wegen übler Nachrede, Bedrohung, Nachstellung, Verleumdung, Verstoß gegen das Gewaltschutzgesetz sowie des ursprünglichen Verdachts des Raubes – jeweils mutmaßlich begangen zum Nachteil seiner vormaligen Lebensgefährtin bzw. deren Familienangehörigen.

Gegenstand letzteren Ermittlungsverfahrens – welches Anlass der hier besprochenen gerichtlichen Entscheidung ist – war der Vorwurf, der Beschwerdeführer habe den Vater seiner früheren Lebensgefährtin bei einem Treffen zu Boden gestoßen, den von diesem an der Leine mitgeführten Hund losgelöst und weggeführt. Im Zusammenhang mit der Trennung hatte es Streitigkeiten über den Verbleib des Hundes und die Eigentumsverhältnisse an ihm gegeben.

Mit Schriftsatz vom 15.4.2020 beantragte der Verteidiger gegenüber der Staatsanwaltschaft die Beiordnung als Pflichtverteidiger unter gleichzeitiger Ankündigung der Niederlegung seines Wahlmandats für diesen Fall. Die Staatsanwaltschaft vermerkte am 24.4.2020 intern, dass noch kein Beiordnungsantrag bei Gericht gestellt werde, da noch nicht sicher sei, ob ein Fall notwendiger Verteidigung wegen eines Verbrechens vorläge, § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Der Verteidiger wiederholte seinen Antrag am 5.5.2020, über den die Staatsanwaltschaft in der Folge wiederum keine Entscheidung des Gerichts herbeiführte. Stattdessen wurde unter dem 2.7.2020 beim AG Salzgitter der Erlass eines Strafbefehls und die Verhängung einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen wegen Körperverletzung und Nötigung gegen den Beschwerdeführer beantragt.

Mit Schriftsatz vom 20.7.2020 legte der Verteidiger gegenüber dem AG „Beschwerde gegen die Nichtbeiordnung als Pflichtverteidiger“ ein. Mit Beschluss vom 30.7.2020 lehnte das AG die begehrte Beiordnung (erstmals) ab.

Hiergegen wiederum wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde vom 4.8.2020 unter Hinweis auf die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der verschiedenen – zum Teil noch nicht ausermittelten – Vorwürfe.

II. Entscheidung

Das LG hat die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

Für die Frage, ob die drohende Straferwartung eine Beiordnung bedinge, sei auf die Summe der zu erwartenden Strafen abzustellen, wenn Gesamtstrafenfähigkeit vorliegt (KG, Beschl. v. 13.12.2018 – 3 Ws 290/18), wobei insgesamt dann ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben sei, wenn die Verhängung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe im Raum steht.

Hierbei sei vor allem maßgeblich zu berücksichtigen, dass die in Frage stehenden Taten in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zueinander stehen und daher bei der Frage der Gesamtstrafenbildung, § 54 StGB, ein straffer Zusammenzug geboten sein werde. Die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass insgesamt für die im Rahmen stehenden Delikte nur Geldstrafen zu erwarten sind, sei nicht verfehlt.

Auch die Sach- und Rechtslage würden die Beiordnung nicht gebieten, da die nunmehr (noch) im Raum stehenden Vorwürfe der vorsätzlichen Körperverletzung und Nötigung für den Laien begreifbar und der tatsächliche Lebenssachverhalt einfach gelagert wäre.

Dass nicht bereits auf den ersten Antrag des Verteidigers vom 15.4.2020 hin über die Beiordnung entschieden wurde, sei nicht zu beanstanden. Die Beiordnung sei erst dann unverzüglich herbeizuführen, § 141 Abs. 1, Abs. 2 StPO, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorläge. Zu diesem Zeitpunkt sei noch nicht abschließend beurteilbar gewesen, ob die Ermittlungen den Vorwurf des Raubes (und damit einen Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO) tatsächlich bestätigen würden.

Das LG geht im Rahmen der Entscheidung nur am Rande darauf ein, dass zum Zeitpunkt des ersten Beiordnungsantrages gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts des Raubes ermittelt wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO, und stellt hierbei darauf ab, dass sich dieser Verdacht im Verlauf der weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ja gerade nicht erhärtet habe. Dies dürfte sich mit dem Gedanken des § 141 Abs. 1 StPO wohl nicht in Einklang bringen lassen.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Frage der Beiordnung – und ihres Zeitpunktes – nach Reform des Pflichtverteidigerrechts bleibt spannend und war zuletzt Gegenstand einer Vielzahl von Entscheidungen, wobei sich in der Tendenz die Auffassung durchzusetzen scheint, dass die Beiordnung auch nachträglich möglich sein muss (für die unverzügliche oder jedenfalls rückwirkende Beiordnung zuletzt etwa AG Bad Kreuznach, Beschl. v. 29.10.2020 – 43 Gs 1054/20 oder auch LG Duisburg, Beschl. v. 5.8.2020 – 33 Qs 37/20, LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 – 7 Qs 11/20; LG Magdeburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 29 Qs 2/20), und sogar nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens, § 170 Abs. 2 StPO, rückwirkend beigeordnet wird, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt wurde (so auch bei späterer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO das LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20; gegen eine rückwirkende Beiordnung bei zwischenzeitlich weggefallenen Voraussetzungen aber z.B. LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 12.8.2020 – 2 Qs 93/20 und nach Abschluss des Verfahrens KG, Beschl. v. 9.4.2020 – 2 Ws 30/20, 2 Ws 31/20.

Für die Verteidigung gibt dies Anlass, entsprechende Beiordnungsanträge mit dem nötigen Nachdruck und ggf. unter ausdrücklichem Hinweis auf die neue Rechtslage zu formulieren und konsequent im Blick zu behalten. Die Vorlage der Ermittlungsakten durch die Staatsanwaltschaft an den zuständigen Ermittlungsrichter muss regelmäßig binnen weniger Tage (in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 306 Abs. 2 StPO dürfte es angemessen sein, auf einen Zeitraum von maximal drei Tagen abzuheben) möglich sein. Eine Verzögerung der Vorlage durch die Staatsanwaltschaft nach Gutdünken lässt sich mit der Intention des Gesetzgebers bei der Reform des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO nicht in Einklang bringen. Ein Ermessensspielraum steht der Staatsanwaltschaft hier schlechterdings nicht zu und liefe auf eine Beschneidung der Verteidigungsrechte des Betroffenen hinaus.

Vieles spricht dafür, dass im Falle einer unzulässig verzögerten Vorlage bei der Entscheidung über die Beiordnung dann aber jedenfalls auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem redlicherweise die erste Entscheidung über die Beiordnung hätte getroffen werden können und müssen. Andernfalls könnte die Staatsanwaltschaft durch den Zeitpunkt der Vorlage die Voraussetzungen der Beiordnung schaffen bzw. beseitigen, was mit der Novelle sicherlich nicht beabsichtigt war.

Schon nach der früheren Rechtslage hinderte das Bestehen der Wahlverteidigung die Beiordnung nicht, wenn der Verteidiger erklärt, sein Wahlmandat für den Fall der Beiordnung niederzulegen (OLG Oldenburg, Beschl. v. 20. 4. 2009 – 1 Ws 235/09, NJW 2009, 3044) – hierzu nach der Reform jüngst LG Detmold, Beschl. v. 5.5.2020 – 23 Qs 31/20; man wird annehmen dürfen, dass sich schon im Beiordnungsantrag konkludent die Ankündigung ebendieser Niederlegung zu erkennen gibt, sollte dies aber schon aus Klarstellungsgründen im Beiordnungsantrag explizit erwähnen.

RiAG Patrick Hecken, Dillingen/Donau

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