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Zulässige nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung

1. Unverzüglich i.S.d. §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. Satz 2 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden. Grundsätzlich ist hierunter eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer, maximal zwei Wochen zu verstehen.

2. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung gem. § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO n.F. rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann jedenfalls nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ausnahmsweise auch nach Einstellung des Verfahrens noch eine Pflichtverteidigerbestellung erfolgen. (Leitsätze des LG Bochum)

AG Düsseldorf, Beschl. v. 9.11.2020 – 152 Gs 1822/20

AG Karlsruhe, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 Gs 3/20

AG Tiergarten, Beschl. v. 8.10.2020 – (329 Gs) 282 Js 599/20 (49/20)

LG Bochum, Beschl. v. 18.9.2020 – II-10 Qs-36 Js 596/19

LG Erfurt, Beschl. v. 11.11.2020 – 7 Qs 199/20

I. Sachverhalt

In allen Fällen war über die Zulässigkeit einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden. In den entschiedenen Fällen waren die Verfahren i.d.R. nach Stellung des Beiordnungsantrags nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

II. Entscheidungen

Die LG und AG haben die Zulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung nach „neuem Recht“ bejaht. I.d.R. wird darauf abgestellt, dass eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung im Hinblick auf die am 13.12.2019 in Kraft getretene Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. BT-Drucks 19/13829 und 19/15151) zumindest in den Fällen möglich sei, in denen der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO vorlagen und eine Entscheidung durch interne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte. Soweit nach § 141 Abs. 2 Satz. 3 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers unterbleiben könne, wenn beabsichtigt sei, das Verfahren alsbald einzustellen, und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, beziehe sich diese gesetzliche Reglung dem Wortlaut und der systematischen Stellung nach nicht auf die Antragstellung durch den Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO, sondern nur auf den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers vom Amts wegen nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 (vgl. LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2020 – JK 11 15/20 jug; LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20, StRR 9/2020, 19).

Das LG Bochum hat zudem noch zu dem seit dem 13.12.2019 ausdrücklich in § 141 Abs. 1 StPO normierten Unverzüglichkeitsgebot Stellung genommen. Es sei auch nach alter Rechtslage anerkannt gewesen, dass sich aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eine Verpflichtung auf zeitnahe Entscheidung über den Antrag ergibt (BeckOK-StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, § 141 Rn 12; vgl. auch OLG Hamm NStZ-RR 2011, 86 zum Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist). In dem vom LG entschiedenen Fall war die Verfahrensakte der Staatsanwaltschaft am 31.10.2019 übersandt worden und dort am 5.11.2019 eingegangen. In der Übersendungsverfügung wurde ausdrücklich darauf Bezug genommen, dass sich der damals Beschuldigte anwaltlich vertreten lässt. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz StPO hätte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen. Unverzüglich bedeute, ähnlich wie nach der zivilrechtlichen Definition, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drucks 19/13829, S. 37). Zu § 141 Abs. 3 Satz 4 a.F. sei dabei anerkannt gewesen, dass das Unverzüglichkeitskriterium im Sinne einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer Woche zu verstehen ist (LR/Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl. 2014, § 141 Rn 19). Hier habe man zwei Monate nach Übersendung der Akte an die Staatsanwaltschaft und über drei Wochen nach der Gesetzesänderung, nämlich am 6.1.2020, ohne weitere Veranlassung das Verfahren eingestellt, obwohl der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung noch mit Schriftsatz vom 14.11.2019 wiederholt worden sei. Gründe dafür, warum der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung übergangen wurde, ergaben sich aus der Verfahrensakte nicht und sind auch sonst nicht ersichtlich. Dem Unverzüglichkeitskriterium wurde nach Auffassung des LG folglich nicht Genüge getan, und zwar auch dann nicht, wenn man der bei Löwe-Rosenberg (a.a.O.) zitierten Gegenansicht folge, nach der das Unverzüglichkeitskriterium auch bei einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von zwei Wochen gegeben ist.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Eines der Hauptprobleme der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung vom 13.12.2019 ist die Frage der nachträglichen/rückwirkenden Beiordnung des Rechtsanwalts, wenn das Verfahren z.B. durch Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO endet, bevor über den Beiordnungsantrag entschieden worden ist. Nach derzeit wohl h.M. ist in diesen Fällen unter Hinweis auf die Absicht des Gesetzgebers möglichst frühzeitig für einen Verteidigerbeistand zu sorgen. Dem insoweit von der Gegenmeinung (vgl. StRR 1/2021 [in dieser Ausgabe]) immer wieder vorgebrachten Argument, die Pflichtverteidigerbestellung erfolge nicht im Kosteninteresse des Verteidigers/Beschuldigten, hält das LG Bochum (a.a.O.) zutreffend entgegen, dass dem Zweck der gesetzlichen Neuregelung eine Gesetzesauslegung entgegenstehe, nach der ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden. Gerade einkommensschwache Beschuldigte, deren Schutz der Gesetzgeber mit der Umsetzung der PKH-Richtlinie primär im Blick hatte, würden sich zudem ganz allgemein schwertun, bereits frühzeitig sachkundigen Rat von einem Verteidiger zu erhalten, da dieser im Falle unsicherer Vergütung kaum für sie tätig werden wird (LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020 – 3 Qs 35/20). Mit der im vorliegenden Fall vertretenen Auffassung, nach der eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung möglich ist, wird also gerade auch dem Interesse des Beschuldigten an einer frühzeitigen Verteidigerbestellung Genüge getan. Denn der Beschuldigte muss, wenn man eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung zulässt, gerade nicht befürchten, in der Endphase eines Verfahrens keinen sich zur Übernahme der Verteidigung bereit erklärenden Verteidiger zu finden.

2. Die o.a. Entscheidungen stehen im Volltext u.a. auf www.burhoff.de online.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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