1. Die Vorschrift des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG gilt für alle Fälle der Verfahrensverbindung, unabhängig davon, ob die Beiordnung als Pflichtverteidiger vor oder nach der Verbindung erfolgt ist.
2. Eine Erstreckung der Beiordnung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG setzt nicht zwingend voraus, dass vor der Verbindung bereits ein Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in dem hinzuverbundenen Verfahren gestellt wurde. (Leitsätze des Gerichts)
OLG Celle,Beschl.v.6.9.2019–2 Ws 253/19
I. Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten ursprünglich zwei Ermittlungsverfahren geführt, und zwar das Verfahren 3103 Js 19257/18 wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes sowie das Verfahren 3103 Js 20366/18 wegen des Verdachts eines (weiteren) besonders schweren Raubes. Am 14.1.2019 legitimierte sich der Rechtsanwalt gegenüber der Staatsanwaltschaft als Verteidiger zu beiden Verfahren und beantragte jeweils Akteneinsicht, die auch gewährt wurde. Am 1.2.2019 erfolgte die Verbindung des Verfahrens 3103 Js 19257/18 zu dem führenden Verfahren 3103 Js 20366/18 durch die Staatsanwaltschaft. Am 29.3.2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen versuchten besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 22, 23 StGB) und besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 StGB) in Tatmehrheit. Zugleich wurde der Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten beantragt.
Am 8.4.2019 hat das LG den beantragten Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift erlassen und die Anklage zugestellt. Auf den Antrag des Verteidigers vom 11.4.2019 wurde dieser mit Beschluss vom 15.4.2019 zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt.
Nach Durchführung der Hauptverhandlung und Verurteilung des Angeklagten stellte der Verteidiger einen Kostenfestsetzungsantrag, in dem er u.a. zweimal die Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG sowie zweimal die Verfahrensgebühr nach Nr. 4105 VV RVG beanspruchte. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss des LG erfolgte nur eine Teilfestsetzung; nicht festgesetzt wurden die geltend gemachten Gebühren für die Tätigkeiten im hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung. Im Kostenfestsetzungsbeschluss ist hierzu ausgeführt, dass eine Vergütung für die Tätigkeiten im hinzuverbundenen Verfahren nicht erfolgen könne, da bei Verbindungen von Verfahren für jedes Verfahren gesondert eine Beiordnung erfolgen müsse.
Daraufhin beantragte der Verteidiger am 5.7.2019 bei der Strafkammer die Anordnung der Erstreckung der Beiordnung auf das bereits durch die Staatsanwaltschaft verbundene Verfahren. Nach Einholung einer Stellungnahme des Bezirksrevisors hat die Vorsitzende der Strafkammer mit dem vom Rechtsanwalt inzwischen angefochtenen Beschluss den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass sich die Frage einer Entscheidung über die Erstreckung nur stelle, wenn zu einem Verfahren, in dem der Verteidiger bereits beigeordnet sei, weitere Verfahren, in denen bislang keine Beiordnung erfolgte, hinzuverbunden würden. Dieser Fall liege nicht vor, da die Verfahren bereits vor der Beiordnung verbunden gewesen seien. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des A, die beim OLG Erfolg hatte. Das OLG hat den die Erstreckung ablehnenden Beschluss des LG aufgehoben und die Erstreckung ausgesprochen.
II. Entscheidung
Das OLG hat die Beschwerde als nach § 304 Abs. 1 StPO – es war altes Recht anwendbar – zulässig angesehen. Gegen die Ablehnung der Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG sehe das RVG keinen besonderen Rechtsbehelf vor. Werde der Erstreckungsantrag abgelehnt, könne der Rechtsanwalt dagegen aus eigenem Recht Beschwerde einlegen (KG RVGreport 2012, 56 = StRR 2012, 78 = StraFo 2012, 292; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 24. Aufl. 2020, § 48 Rn 211; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, § 48 Abs. 6 Rn 39). Für die Anfechtung des die Erstreckung ablehnenden Beschlusses gelten die allgemeinen Regeln (KG, a.a.O.; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O.).
Im Rahmen der Ausführungen zur Begründetheit des Rechtsmittels verweist das OLG zunächst darauf, dass der Ablehnungsbeschluss des LG bereits deshalb aufzuheben sei, weil die Vorsitzende der Strafkammer für die getroffene Entscheidung funktionell nicht (allein) zuständig gewesen sei. Jedoch führt diese (versehentliche) Verletzung der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung nicht zu einer Zurückverweisung der Sache an das LG, vielmehr könne der Senat in der Sache selbst entscheiden. Dazu weist das OLG darauf hin, dass nach dem Wortlaut des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nicht dem Vorsitzenden allein obliege, sondern dem Gericht. Die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung knüpfe an die Verbindung von Verfahren an, über die ebenfalls das Gericht zu entscheiden habe (§ 4 Abs. 1 StPO). In der Sache gehe es hierbei nicht um die Pflichtverteidigerbestellung als solche, sondern um die Bestimmung einer rein vergütungsrechtlichen Rückwirkung (so auch OLG Düsseldorf RVGreport 2007, 140; OLG Hamm, Beschl. v. 29.1.2008 – 4 Ws 9/08; LG Bielefeld, Beschl. v. 4.1.2006 – Qs 731/05 III; LG Cottbus StRR 2013, 305 = RVGprofessionell 2013, 44; LG Dortmund, Beschl. v. 19.12.2006 – I Qs 87/06; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, § 48 Abs. 6 Rn 37). Dass über den Antrag auf Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung hier die Vorsitzende anstelle der hierzu berufenen Strafkammer entschieden habe, zwinge aber nicht dazu, die Sache an die funktionell zuständige Strafkammer zurückzuverweisen. Denn der Verfahrensmangel könne im Beschwerdeverfahren in dem Sinne ausgeglichen werden, dass der Senat an die Stelle der an sich zur Entscheidung berufenen Strafkammer trete (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.).
Das OLG nimmt sodann Stellung zu der in Rechtsprechung in Literatur umstrittenen Frage, ob in Fällen wie dem vorliegenden – Verbindung vor Beiordnung – ein Antrag nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG gestellt werden muss. Zum Teil wird in Rechtsprechung und Literatur vertreten, dass aus § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG direkt der Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in den vor der Beiordnung hinzuverbundenen Verfahren folge (vgl. dazu Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., § 48 Rn 205 und Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, § 48 Abs. 6 Rn 21 f. jeweils m.w.N.). Nach anderer Auffassung gilt die Vorschrift des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG für alle Fälle der Verfahrensverbindung, ungeachtet der zeitlichen Reihenfolge von Verbindung und Beiordnung. Das OLG hält an der letzteren, auch schon früher von ihm vertretenen Auffassung (OLG Celle, Beschl. v. 2.1.2007 – 1 Ws 575/06) fest. Nach seiner Auffassung geben weder der Wortlaut noch systematische Erwägungen Veranlassung, die Vorschrift des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG nicht auf alle Verfahrensverbindungen anzuwenden, unabhängig davon, wann sie erfolgten.
Eine Absage erteilt das OLG der (vereinzelt) in der Rechtsprechung vertretenen Ansicht, dass über die materiellen Voraussetzungen des § 140 StPO hinaus die Anordnung der Erstreckung der Beiordnung voraussetze, dass in den hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung bereits ein Antrag auf Beiordnung gestellt worden ist (so ausdrücklich LG Berlin RVGreport 2006, 144 = JurBüro 2006, 29; LG Bielefeld StRR 2008, 360; LG Osnabrück RVGreport 2019, 335 = Nds.Rpfl. 2016, 350–351). Zwar sei es zutreffend, dass gemäß § 141 StPO auch in den Fällen notwendiger Verteidigung ein Pflichtverteidiger nur dann bestellt werde, wenn der Betroffene noch keinen Verteidiger habe. Trete ein Rechtsanwalt in Fällen, in denen grundsätzlich die Voraussetzungen des § 140 StPO gegeben seien, als Wahlverteidiger auf, so werde er erst auf entsprechenden Antrag – und unter Niederlegung des Wahlmandats – als Pflichtverteidiger beigeordnet. Allerdings gebieten weder der Wortlaut des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG noch die Gesetzesbegründung zu dem (wortgleichen) § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG a.F. (BT-Drucks 15/1971), hiervon die Möglichkeit der nachträglichen Erstreckung der Beiordnung abhängig zu machen. Die Begründung des Gesetzesentwurfs enthält lediglich den Hinweis, dass eine Erstreckung „insbesondere“ dann in Betracht komme, wenn in einem der verbundenen Verfahren eine Bestellung unmittelbar bevorgestanden hätte (BT-Drucks 15/1971, S. 201), was im Gegenschluss bedeute, dass es nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch Anwendungsfälle der Norm geben müsse, in denen dies – also die unmittelbar bevorstehende Beiordnung – nicht der Fall ist. Im Übrigen bestehe im Ermittlungsverfahren für den Wahlverteidiger lediglich die Möglichkeit, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger anzuregen; ein Antragsrecht besitze nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO – jedenfalls noch – allein die Staatsanwaltschaft. Da die Staatsanwaltschaft weiter die Möglichkeit habe, Ermittlungsverfahren vor Anklageerhebung nach eigenem Ermessen jederzeit zu verbinden, was außerhalb dienstaufsichtsrechtlicher Maßnahmen nicht anfechtbar sei (vgl. KK-StPO/Scheuten, 8. Aufl. 2019, StPO § 2 Rn 8), bliebe es letztlich der Entscheidung der Staatsanwaltschaft überlassen, ob eine Erstreckung der späteren Beiordnung auch auf Verfahren, in denen die materiellen Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen, verhindert würde. Die vom Gesetzgeber in § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG vorgesehene, an Sachgründen ausgerichtete Prüfungsmöglichkeit durch das beiordnende Gericht liefe insoweit leer.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Dem OLG ist weitgehend zuzustimmen. Dass die Erstreckung nicht davon abhängig ist, dass vor der Verbindung bereits ein Beiordnungsantrag gestellt worden ist, haben im Übrigen außer dem OLG Celle bereits andere Gerichte zutreffend entschieden (KG RVGreport 2012, 56 = StRR 2012, 78 = StraFo 2012, 292; LG Cottbus StRR 2013, 305; LG Kiel RVGprofessionell 2006, 202). Lediglich zur Frage der Erforderlichkeit der Antragstellung auch in den Fällen, in denen die Verbindung bereits vor der Beiordnung erfolgt ist, kann man dem OLG nicht folgen. Allerdings ist das eine Frage, die ausdiskutiert ist. Neue Argumente für die von ihm vertretene, in meinen Augen nicht zutreffende Auffassung hat auch das OLG Celle nicht gebracht. Das führt erneut zum Rat für den Rechtsanwalt, immer dann, wenn er in mehreren Verfahren tätig gewesen ist, die dann miteinander verbunden werden, auf jeden Fall die Erstreckung zu beantragen. Dann ist er auf der sicheren Seite.
2. Und: Inzidenter nimmt das OLG auch zur der Frage Stellung, ob ein Erstreckungsantrag auch noch nach (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens zulässig ist (so auch KG RVGreport 2012, 56 = StRR 2012, 78 = StraFo 2012, 292; OLG Düsseldorf RVGreport 2008, 140; OLG Hamm, Beschl. v. 29.1.2008 – 4 Ws 9/08; OLG Zweibrücken RVGreport 2018, 14 = NStZ-RR 2018, 64 = JurBüro 2018, 79; LG Braunschweig StraFo 2015, 349 = RVGreport 2015, 374 = StRR 2015, 398; LG Cottbus StRR 2013, 305; LG Dresden RVGreport 2008,140; LG Düsseldorf StraFo 2012, 117; LG Freiburg RVGreport 2006, 183). Aber auch insoweit sollte der Rechtsanwalt sein Glück nicht über Gebühr strapazieren, damit ihm keine Gebühren verloren gehen.
RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg