Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht eine durch eine Aussetzung der Hauptverhandlung und eine Neuterminierung erst auf einen etwa sieben Monate später liegenden Zeitpunkt bedingte Verzögerung unter Hinweis auf das Verteidigungsverhalten des Angeklagten als gerechtfertigt ansieht, obwohl weder erkennbar ist, weshalb die Strafkammer darauf hätte vertrauen können, der Angeklagte werde ein umfassendes Geständnis ablegen, noch, weshalb sie die Hauptverhandlung nach der nur teilgeständigen Einlassung des Angeklagten sogleich ausgesetzt hat, ohne die erschienenen Zeugen zu vernehmen und ohne sich um weitere Fortsetzungstermine zu bemühen.
BVerfG, Beschl. v. 1.4.2020 – 2 BvR 225/20
Mit Rücksicht auf den vom Gesetzgeber bezweckten Schutz der Intimsphäre des Gefangenen liegt eine „körperliche Durchsuchung“ i.S.d. § 50 Abs. 2 HmbUVolizG jedenfalls bei einer explizit visuellen Kontrolle des Körpers des Gefangenen vor.
OLG Hamburg, Beschl. v. 19.5.2020 – 3 St 1/20
Ein Fall der notwendigen Verteidigung wegen der Schwere der Tat liegt auch dann vor, wenn zwar die wegen des verfahrensgegenständlichen Delikts zu erwartende Strafe die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht erfordert, aber im Wege der Einbeziehung bei Bildung einer Gesamtstrafe die Strafe jedenfalls in den Bereich der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO gelangt. Der hat sich durch die Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung nicht geändert.
LG Magdeburg, Beschl. v. 30.4.2020 – 25 Qs 36/20
Die Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 1 StPO n.F. erfordert nur, dass dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet wurde und er noch keinen Verteidiger hat. Es ist nicht erforderlich, dass der darüber hinaus gebotene Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung seitens des Beschuldigten sofort nach der Belehrung und noch vor dessen Erstvernehmung gestellt werden muss. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.
LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20
Lagen die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Zeitpunkt des Beiordnungsantrages vor und war der Antrag vom Verteidiger rechtzeitig – ggf. auch vor dem Tod des inzwischen verstorbenen Beschuldigten – gestellt, können im Bereich der Justiz liegende Verzögerungen weder dem Beschuldigten noch dem Verteidiger angelastet werden, so dass eine nachträgliche Beiordnung in Betracht kommt (§§ 140 ff. StPO).
AG Tiergarten, Beschl. v. 10.6.2020 – 348 Gs 1453/20
Der Angeklagte hat grundsätzlich keinen Anspruch auf schriftliche Übersetzung eines nicht rechtskräftigen erstinstanzlichen Strafurteils, wenn er verteidigt ist, er und sein Verteidiger bei der Urteilsverkündung anwesend waren und dem Angeklagten die Urteilsgründe durch einen Dolmetscher mündlich übersetzt worden sind. Ein berechtigtes Interesse des Angeklagten an einer schriftlichen Übersetzung des Urteils wird nicht allein dadurch begründet, dass nach der Urteilsverkündung kein Kontakt zwischen ihm und seinem Verteidiger bestand.
BGH, Beschl. v. 18.2.2020 – 3 StR 430/19
Ist der Heranwachsendenstatus eines Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat nicht sicher auszuschließen, so ist nach dem Grundsatz in dubio pro reo davon auszugehen, dass er bei Begehung der Tat noch Heranwachsender war (Anschluss an u.a. BGHSt 47, 311, 313).
BGH, Beschl. v. 2.4.2020 – 1 StR 28/20
Die unterbliebene Mitteilung der Anklageschrift begründet kein Verfahrenshindernis und führt insbesondere nicht zur Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses, da der Verstoß gegen § 201 StPO im weiteren Verfahren durch Nachholung der Mitteilung noch kompensiert werden kann.
BGH, Beschl. v. 13.5.2020 – 4 StR 533/19
Dem Großen Senat für Strafsachen wird folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist der Angeklagte nach § 265 Abs. 1 oder nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO auf die obligatorische Einziehung des Wertes von Taterträgen (§§ 73, 73c StGB) hinzuweisen, wenn die ihr zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen bereits in der Anklageschrift enthalten sind?
BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 20/19
Allein der Umstand, dass die Eröffnung und Terminierung des Hauptverfahrens erfolgte, bevor der Angeklagte Gelegenheit zur (abschließenden) Stellungnahme hatte, rechtfertigt Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gerichts (§ 24 StPO).
AG Offenbach am Main, Beschl. v. 17.3.2020 – 250 Ds – 1300 Js 85929/19
Die Verfahrensrüge, mit der beanstandet wird, das Tatgericht habe einen auf Vernehmung von Zeugen gerichteten Beweisantrag zurückgewiesen, erfüllt nicht die Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, wenn die Revision die Stellungnahme nicht mitteilt, welche die Staatsanwaltschaft ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls zu diesem Beweisantrag abgegeben hatte (vgl. auch BGH, Beschl. v. 24.10.2018 –5 StR 206/18).
BGH, Beschl. v. 27.8.2019 – 5 StR 245/19
Ärztliche Bescheinigungen und Atteste haben so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, wie nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht; dies gilt auch dann, wenn sie dem Gericht lediglich als Kopie oder in digitaler Form per E-Mail übermittelt werden. Etwas anderes kann nur gelten, wenn feststeht, dass die ärztliche Bescheinigung als unglaubwürdig oder unbrauchbar anzusehen oder das Entschuldigungsvorbringen aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich als ungeeignet anzusehen ist, das Ausbleiben zu entschuldigen. Hierfür ist nicht ausreichend, dass dem Angeklagten aufgrund von unbestätigten Feststellungen einer Anklage in einem anderen Verfahren in anderem Zusammenhang und zu anderen Zeiträumen u.a. Verfälschungen ärztlicher Bescheinigungen zur Last liegen.
BayObLG, Beschl. v. 31.3.2020 – 202 StRR 29/20
Im Sicherungsverfahren nach § 413 StPO können nur Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden. Einziehungsentscheidungen kommen bei schuldunfähigen Tätern dagegen allein im selbstständigen Einziehungsverfahren (§ 435 StPO) in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 76a Abs. 1 Satz 1 StGB vorliegen.
BGH, Beschl. v. 29.4.2020 – 3 StR 122/20
Die Vollstreckung einer Einziehungsanordnung hat nach § 459g Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 StPO zwingend zu unterbleiben, wenn der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist.
OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.2.2020 – Ws 2/20
Gewinne aus dem Handel mit Kryptowährung können erst dann der Festsetzung der Tagessatzhöhe als Nettoeinkommen zugrunde gelegt werden, wenn sie bereits in Geld umgewandelt und etwa als Gutschrift auf ein Bankkonto übertragen worden sind. Solange sie noch als Kryptowährung vorhanden sind, sind sie als realisierbarer Vermögenswert zu behandeln.
OLG Celle, Beschl. v. 5.6.2020 – 3 Ss 16/20
Stellt ein Beamter, dem insoweit zumindest die Möglichkeit der Einflussnahme zu Gebote steht, die Förderung der Karriere einer Bediensteten bei Stellenbesetzungen gegen sexuelle Gunstgewährung in Aussicht, so erfüllt dies den Tatbestand der Bestechlichkeit auch dann, wenn die konkrete Art der Förderung im Unbestimmten bleibt (§ 332 StGB).
BGH, Beschl. v. 7.4.2020 – 6 StR 52/20
Ein tätlicher Angriff im Sinne von § 114 Abs. 1 StGB setzt eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung voraus. An diesem Begriffsverständnis hat sich durch die Einfügung der Vorschrift des § 114 StGB durch das Zweiundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 23.5.2017 (BGBl I 2017, 1226) nichts geändert.
BGH, Beschl. v. 13.5.2020 – 4 StR 607/19
Für die Annahme eines versuchten Diebstahls kommt es darauf an, ob der Täter bereits im Sinne des § 22 StGB unmittelbar zum Gewahrsamsbruch angesetzt hat. Das bloße Bereitstellen oder Bereitlegen einer Sache innerhalb der Sphäre des Gewahrsamsinhabers zum späteren Abtransport reicht daher in der Regel weder zur Entziehung des Gewahrsams des Berechtigten (Gewahrsamsbruch) noch zur Gewahrsamserlangung des Täters (Begründung eigenen Gewahrsams) aus. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Sache versteckt, die endgültige Erlangung aber noch mit Schwierigkeiten, etwa dem Überwinden eines weiteren Hindernisses, verbunden ist.
OLG Dresden, Beschl. v. 28.5.2020 – 2 OLG 22 Ss 369/20
Für die Annahme eines friedensstiftenden Ausgleichs im Sinne von § 46a Nr. 1 StGB ist auch ein adäquater Ausgleich für die dem Tatopfer entstandenen materiellen Schäden vorzunehmen. Dabei kann nicht ausschließlich auf die subjektive Bewertung von Tatopfer oder Täter abgestellt werden. Erforderlich ist vielmehr vorrangig die Prüfung, ob die konkret erfolgten oder ernsthaft angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle und immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können.
BGH, Urt. v. 15.1.2020 – 2 StR 412/19
Die Kosten privater eigener Ermittlungen des Beschuldigten sind in der Regel grundsätzlich nicht erstattungsfähig Nur wenn sich etwa aufgrund bis dahin unzureichend geführter oder mangelhafter Ermittlungen die Notwendigkeit zur Einholung eines Gutachtens aufdrängt und einem entsprechenden Beweisantrag der Verteidigung nicht nachgekommen wird, kann ein Privatgutachten ausnahmsweise erstattungsfähig sein.
LG Potsdam, Beschl. v. 5.6.2020 – 24 Qs 28/20
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