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StRR-Kompakt 2021-09

EncroChat, Verwertbarkeit der Überwachungserkenntnisse

Die Verwertung der durch die französischen Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Überwachung des Dienstleistungsanbieters für sogenannte Krypto-Handys (EncroChat) durch Entschlüsselung von Chat-Nachrichten gewonnenen, sichergestellten und ausgewerteten Chat-Daten unterliegt keinem Verbot.

KG, Beschl. v. 30.8.2021 – 2 Ws 79/21

OLG Brandenburg, Beschl. v. 3.8.2021 – 2 Ws 102/21

OLG Celle, Beschl. v. 12.8.2021 – 2 Ws 250/21

Auswechslung des Pflichtverteidigers: Rechtsmittel

Der Ausschluss der sofortigen Beschwerde gegen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gem. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO kommt nur in denjenigen Konstellationen zum Tragen, in denen das Rechtsschutzziel des Beschuldigten auf Auswechslung eines bestellten Verteidigers gegen einen bestimmten anderen Verteidiger gerichtet ist.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.7.2021 – 4 Ws 97/21

Pflichtverteidiger: Aktenkenntnis; anwaltlich beratener Nebenkläger

Verändert ein Zeuge im Verlaufe des Verfahrens seine Aussage und ist damit zu rechnen, dass Vorhalte notwendig werden, die Kenntnis vom Akteninhalt erfordern, ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten. Die Mitwirkung eines Verteidigers kann über den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO hinaus unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten sein, wenn der Nebenkläger anwaltlich beraten ist.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.6.2021 – 1 Qs 131/21

Pflichtverteidiger: Schwierigkeit der Rechtslage

Wird der Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung beim Kindergeldbezug verfolgt und kommt es für den Kindergeldanspruch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf eine Koordinierung der Ansprüche nach Art. 68 Verordnung (EG) 883/2004 an, liegt regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung vor.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.7.2021 – 12 Qs 45/21

Pflichtverteidiger: schwierige Sach- und Rechtslage

Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten – strafbewehrten – Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlender Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach- und Rechtslage schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO.

LG Görlitz, Beschl. v. 19.7.2021 – 3 Qs 115/21

Pflichtverteidiger: KiPo-Verfahren

In einem Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften ist die Sach- und Rechtslage schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, da neben der Problematik der Inaugenscheinnahme der pornografischen Bilder ggf. ein Großteil der Beweismittel lediglich in englischer Sprache abgefasst vorliegt.

LG Zwickau, Beschl. v. 28.7.2021 – 1 Qs 134/21

Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO: Rechtsgespräch

Die Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO wird nur bei einer verständigungsbezogenen Erörterung i.S.d. § 257c StPO ausgelöst, die dann anzunehmen ist, wenn bei dem „Rechtsgespräch“ ausdrücklich oder konkludent Fragen des prozessualen Verhaltens des Angeklagten in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden.

BayObLG, Beschl. v. 12.7.2021 – 202 StRR 37/21

Unterbrechungsfrist: Sperrung von Sitzungssälen während der Corona-Pandemie

Die infolge einer Sperrung von Sitzungssälen durch die Gerichtsverwaltung zum Schutz vor der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus eingetretene geringere Verfügbarkeit von Sitzungssälen zur Verhandlung priorisierter Haftsachen gegenüber nicht priorisierten Verfahren ist als mittelbare Auswirkung der Schutzmaßnahme von § 10 Abs. 1 S. 1 EGStPO erfasst. Während des Zeitraumes der Einschränkungen ist die Unterbrechungsfrist gehemmt; der Hemmungszeitraum ist vom tatsächlichen Unterbrechungszeitraum in Abzug zu bringen, so dass sich die zulässige Unterbrechungsfrist entsprechend erhöht. Zudem endet die Unterbrechungsfrist frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Zur Auslösung des Hemmungstatbestandes bedarf es weder eines Feststellungsbeschlusses gem. § 10 Abs. 1 S. 2 EGStPO noch einer Niederlegung der Hintergründe der Überschreitung der Unterbrechungsfrist in den Akten; die Umstände, welche die kraft Gesetzes eintretende Hemmung ausgelöst haben, kann das Revisionsgericht freibeweislich aufklären.

OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.6.2021 – 1 Ss 235/20

Vertretungsvollmacht: teilweise „Selbstvervollständigung“

Bei der Beantwortung der Frage, ob die Vertretungsvollmacht des Verteidigers i.S.v. § 329 Abs. 2 StPO „nachgewiesen“ ist, darf nicht aus dem Blick geraten, dass – jedenfalls dann, wenn nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat – die Alternative zu dessen Vertretung in der Berufungshauptverhandlung in der umstandslosen Verwerfung seines Rechtsmittels besteht. Nach Lage des Einzelfalles kann es daher unbedenklich sein, wenn der Verteidiger die Vollmachturkunde selbst (hier: um das Aktenzeichen des Berufungsverfahrens im Betreff der Vollmachturkunde) vervollständigt.

OLG Köln, Beschl. v. 9.7.2021 – 1 RVs 121/21

Berufungsverwerfung: Wartezeit

Die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht gebieten es dem Berufungsgericht, vor einer Verwerfung der Berufung wegen nicht genügend entschuldigten Ausbleibens des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine den Umständen nach angemessene Zeit, die in der Regel 15 Minuten beträgt, zuzuwarten. Eine Wartezeit ist auch nach kürzeren Unterbrechungen während eines Verhandlungstages („Verhandlungspausen“) vor einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO einzuhalten. Verwirft das Berufungsgericht die Berufung unter Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 StPO, ohne die Wartezeit einzuhalten, und erscheint hiernach der Angeklagte noch vor Ablauf der Wartefrist am Sitzungssaal, ist ihm auf seinen Antrag nach § 329 Abs. 7 S. 1 StPO analog Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Insoweit steht der nichtsäumige dem säumigen Angeklagten gleich.

OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 – 3 OLG 22 Ss 246/21

Revisionsbegründung: Unterzeichnung

Eine Revisionsbegründung ist i.S.d. § 345 Abs. 2 StPO unterzeichnet, wenn der Schriftzug mit dem Namen des Unterzeichnenden ein Mindestmaß an Ähnlichkeit in dem Sinne aufweist, dass ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, ihn aus dem Schriftbild noch herauslesen kann.

OLG Hamm, Beschl. v. 10.8.2021 – 1 RVs 41/21

Vorführung: Invollzugsetzung eines Haftbefehls

Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben und der Haftbefehl damit wieder in Vollzug gesetzt, ist der Beschuldigte unverzüglich nach seiner erneuten Festnahme gemäß § 115 Abs. l 1 StPO dem zuständigen Gericht vorzuführen. Nichts anderes kann vor dem Hintergrund der in Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG getroffenen Regelung für den vorliegenden Fall gelten, dass ein zunächst ausgesetzter Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird.

OLG Nürnberg, Beschl. v. 11.8.2021 – Ws 735/21

Haftgrund: Wiederholungsgefahr

Der Handel mit Betäubungsmitteln im 50- bis 100-Kilo-Bereich stellt keine Kommunikation von Neueinsteigern im Rauschgiftgeschäft dar und erfordert ein Netzwerk, das weder „aus dem Nichts“ betreten noch ohne weiteres jederzeit verlassen werden kann. Die für die Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 erforderliche Gefahrenprognose ist damit gegeben.

AG Flensburg, Beschl. v. 27.5.2021 – 485 Gs 527/21 131 Js 24455/20

Verjährungsunterbrechung: Durchsuchungsanforderung

Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, die nicht den Mindestanforderungen an die Konkretisierung des Tatvorwurfs genügen, führen keine Unterbrechung der Verjährung nach § 78c Abs. 1 Nr. 4 StGB herbei.

BGH, Beschl. v. 20.7.2021 – 4 StR 439/20

Landfriedensbruch: Gewalthandlung bei Fußballspiel

Können Handlungen von Fußballfans auch Teil der Unterstützung der eigenen Mannschaft sein (etwa gemeinsames Springen, Klatschen, das Entzünden von Pyrotechnik oder das Aufziehen einer Blockfahne), bedarf es zur Feststellung einer mit vereinten Kräften begangenen Gewalthandlung i.S.d. § 125 Abs. 1 StGB einer genauen Darlegung und Begründung der subjektiven Zielrichtung der nach ihrem äußeren Erscheinungsbild ambivalenten Handlungen.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 6.7.2021 – 1 OLG 2 Ss 38/21

Standardisiertes Messverfahren

Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV 3 sind in ihrer Gesamtheit auch nach Abschluss der Untersuchungen durch die PTB derzeit nicht als standardisiertes Messverfahren anzusehen.

OLG Oldenburg, Beschl. v. 19.7.2021 – 2 Ss (OWi) 170/21

Privates Sachverständigengutachten: Erstattung

Die Kosten eines privat eingeholten Sachverständigengutachtens sind ausnahmsweise u.a. dann als erstattungsfähig anzusehen, wenn das Gutachten ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft. Das ist bei einem anthropologischen Gutachten nicht der Fall.

LG Essen, Beschl. v. 19.7.2021 – 27 Qs 35/21

Kostenforderung: Insolvenzforderung

Der Anspruch auf Zahlung der Kosten des strafprozessualen Revisionsverfahrens wird im insolvenzrechtlichen Sinne erst mit der Einlegung der Revision begründet. Daher handelt es sich bei der verfahrensgegenständlichen Kostenforderung nicht um eine Insolvenzforderung nach § 38 InsO.

BGH, Beschl. v. 23.7.2021 – 4 StR 36/19

Zusätzliche Verfahrensgebühr: beratende Tätigkeit

Von der Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG werden sämtliche Tätigkeiten, die der Rechtsanwalt im Hinblick auf die Einziehung erbringt und die zumindest auch einen Bezug zur Einziehung haben, erfasst. Nr. 4142 VV RVG setzt keine gerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts voraus. Auch Besprechungen und Beratungen des Mandanten lösen die Gebühr aus, sofern die Tätigkeit nach Aktenlage geboten war. Allein der Umstand, dass im Falle der Verurteilung eine derartige Maßnahme gegebenenfalls in Betracht kommen könnte, reicht für die Entstehung der Gebühr aber nicht aus. Der Verteidiger muss im Kostenfestsetzungsverfahren darlegen, welche Tätigkeiten er erbracht hat.

KG, Beschl. 30.6.2021 – 1 Ws 16/21

Pflichtverteidiger: Bestellung mit zeitlicher Begrenzung

Auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nicht in Betracht.

LG Magdeburg, Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53/21 und 54/21

Elektronische Akte: Aktenversendungspauschale

§ 107 Abs. 5 OWiG ist dahingehend auszulegen, dass die Aktenversendungspauschale für einen Ausdruck einer eigentlich digital geführten Akte nur dann anfällt, wenn der Antragsteller dieses – nämlich den Ausdruck – besonders beantragt hat.

AG Verden, Beschl. v. 5.7.2021 – 9b OWi 245 Js 25572/21 (290/21)

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