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StRR-Kompakt 2021-01

Terminierung: Minimierung der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus

Den Strafgerichten kommt bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Dies gilt auch bei der Überprüfung von Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus. Ein Gericht, das über die Anberaumung und Durchführung von Hauptverhandlungsterminen entscheidet, wird seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit potentiell gefährlichem Verlauf (hier: Covid-19) und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung abzuwägen, regelmäßig dadurch gerecht, dass es – sachverständig beraten – geeignete Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr durch ein an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts orientiertes Hygienekonzept trifft.

BVerfG, Beschl. v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20

Bußgeldverfahren: Einsicht in Messdaten

Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens grds auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden. Wenn der Betroffene demnach geltend macht, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die durch seinen Verteidiger vermittelte Einsicht grds zu gewähren sein. Allerdings ist gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Es kommt auf die Sicht der Verteidigung an.

BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

Pflichtverteidigerwechsel: Zuständigkeit

Zur Entscheidung über den Pflichtverteidigerwechsel ist nach Anklageerhebung ausschließlich der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zuständig; nicht erledigte Beschwerden gegen insoweit ergangene Beschlüsse des Ermittlungsrichters sind ihm deshalb zur weiteren Entscheidung vorzulegen.

BGH, Beschl. v. 12.11.2020 – StB 34/20

Pflichtverteidiger: schwierige Sach- und Rechtslage

Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO.

KG, Beschl. v. 14.10.2020 – 3 Ws 226/20

Rechtsmittelverzicht: Wirksamkeit

Der bloße Hinweis des Tatrichters auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses oder einer dem gleichkommenden Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch stellt keine (informelle) Verständigung dar, die zu einer Unwirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO führt.

BayObLG, Beschl. v. 2.12.2020 – 2020 StRR 105/20

Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO: sprachunkundiger Angeklagter

Von den Zwangsmitteln des § 230 Abs. 2 StPO darf kein Gebrauch gemacht werden, wenn der Ladung eines Angeklagten, der nach Aktenlage der deutschen Schriftsprache nicht hinreichend mächtig ist, keine Übersetzung der nach § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgesehenen Warnung, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde, in einer ihm verständlichen Sprache beigefügt wurde.

KG, Beschl. v. 9.10.2020 – 4 Ws 80/20

Besetzungsrüge: Bußgeldverfahren

Die Vorschriften der §§ 222a, 222b StPO finden im Bußgeldverfahren (hier: Kartellordnungswidrigkeitenverfahren) keine Anwendung.

OLG Köln, Beschl. v. 1.10.2020 – 5 Ws 534/20

Terminsverlegung: Corona-Pandemie

Das Gericht wird bei der Prüfung der Frage, ob ein Hauptverhandlungstermin wegen der Coronapandemie verlegt werden soll, seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit möglicherweise gefährlichem Verlauf und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung sorgfältig abzuwägen, gerecht, wenn es zur Minimierung der Ansteckungsgefahr eine Vielzahl geeigneter Maßnahmen getroffen hat und insbesondere ein Hygienekonzept vorliegt.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 30.11.2020 – 4 Ws 265/20

Genügende Entschuldigung: vorsätzlich herbeigeführte Verhandlungsunfähigkeit

Legt ein Angeklagter einen Operationstermin so, dass er zur kurz darauf stattfindenden Berufungshauptverhandlung nicht wieder verhandlungsfähig ist, so ist sein Ausbleiben in diesem Termin nicht entschuldigt, wenn der Operationstermin nicht medizinisch indiziert, sondern vom Angeklagten frei wählbar war (§ 329 Abs. 1 StPO).

KG, Beschl. v. 16.9.2020 – 3 Ss 56/20

Vertretungsvollmacht: Nachweis

Zum Nachweis der Vertretungsvollmacht durch ein elektronisches Dokument muss dieses qualifiziert signiert oder auf einem der in § 32a Abs. 4 StPO genannten sicheren Übermittlungswege übermittelt worden sein.

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 18.11.2020 – 2 Rv 21 Ss 483/20

Einziehung: Bestimmtheit der Einziehungsentscheidung

Eine Einziehungsentscheidung mit dem Wortlaut „Gemäß § 74 Abs. 1 StGB wird die Einziehung eines Mobiltelefons mit der Rufnummer pp. angeordnet“ genügt ggf. nicht den an eine wirksame Einziehungsentscheidung zu stellenden Anforderungen und ist somit mangels Bestimmtheit nicht vollstreckbar.

LG Baden-Baden, Beschl. v. 7.12.2020 – 2 Qs 132/20

Wohnungseinbruchsdiebstahl: falscher Schlüssel

Ein bei dem Berechtigten in Vergessenheit geratener Schlüssel ist kein falscher Schlüssel im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

BGH, Beschl. v. 18.11.2020 ‒ 4 StR 35/20

Verstoß gegen Weisungen: fortgesetzter Verstoß

Mehrfache Verstöße gegen dieselbe Weisung ebenso wie Verstöße gegen verschiedene Weisungen gemäß § 145a StGB können nicht von vorneherein zu einer Tat zusammengefasst werden. Es beurteilt sich vielmehr nach allgemeinen Regeln, wann mehrere Verstöße als eine Tat anzusehen sind und wann mehrere Taten vorliegen. Ein fortgesetzter Verstoß gegen dieselbe Weisung kann sich als Verwirklichung eines einheitlichen Täterwillens darstellen, der tatbestandlich zusammengefasst eine Bewertungseinheit bildet; Einzelakte der Ausführungshandlungen sind als unselbstständige Teile der einheitlichen Tat zu behandeln. Das Vorliegen eines wirksamen Strafantrages ist eine Prozessvoraussetzung, die der Senat im Wege des Freibeweises selbst überprüfen kann.

BayObLG, Beschl. v. 23.10.2020 – 203 StRR 414/20

JGG-Verfahren: Schwere der Schuld bei „Internetjihadismus“

Auch bloße Propaganda für den militanten Jihad kann bei einem Jugendlichen schwere Schuld begründen, welche die Verhängung von Jugendstrafe erfordert.

KG, Urt. v. 30.10.2020 – (6a) 172 OJs 22/18 (1/20)

Online-Ticket-Kauf: Vermögensschaden

Für den Eintritt eines Vermögensschadens i.S.v. § 263 StGB zum Nachteil eines Verkehrsunternehmens kommt es nicht darauf an, ob die infolge unbefugter Verwendung von Kreditkartendaten bereitgestellten Online-Tickets anschließend für Fahrten benutzt wurden. Vielmehr besteht der Vermögensschaden bereits darin, dass das Verkehrsunternehmen, das gegenüber dem berechtigten Kreditkarteninhaber zur Rückbuchung verpflichtet ist, nicht die für die Bereitstellung der Online-Tickets vertraglich geschuldete Gegenleistung erhält.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.12.2020 – 2 RVs 85/20

Landfriedensbruch: Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs

Die Aufnahme eines vor Ort vorgefundenen metallenen Cafestuhls zum Zwecke der Verwendung als Wurfgeschoss erfüllt die Voraussetzungen des Regelbeispiels des besonders schweren Falls des Landfriedensbruchs gem. § 125a Abs. 1 Nr. 2 StGB – Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs –, ohne dass es einer darüber hinausgehenden Verletzungsabsicht bedürfte.

OLG Oldenburg, Urt. v. 23.11.2020 – 1 Ss 166/20

Bußgeldverfahren: Terminsverlegung

Auch in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren hat der Betroffene grundsätzlich das Recht, sich durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Dieses Recht ist nicht auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt. Die Ablehnung einer Terminsverlegung wegen Verhinderung des Verteidigers ist beim Vorliegen einer nicht ganz einfachen Sach- und Rechtslage nicht frei von Ermessensfehlern, wenn sie im Hinblick auf die Geschäftsbelastung des Gerichts damit begründet wird, die Verlegung um wenige Wochen sei inakzeptabel.

BayObLG, Beschl. v. 4.12.2020 – 201 ObOWi 1517/20

Fahrverbot: Covid-19-bedingte Härte

Es ist auch dann nicht rechtsfehlerhaft, auf das Regelfahrverbot zu erkennen, wenn der Betroffene geltend macht, es belaste ihn zurzeit konjunkturbedingt härter (hier: Covid-19).

KG, Beschl. v. 26.8.2020 – 3 Ws (B) 163/20 –

StVO-Novelle 2020: Zitierfehler

Die StVO vom 6.3.2013 (BGBl I 2013, S. 367) enthält keinen relevanten Zitierfehler.

KG, Beschl. v. 20.10.2020 – 3 Ws (B) 249/20

Fernabsatzvertrag: Darlegungs- und Beweislast des Rechtsanwalts

Ein Rechtsanwalt, der einen Anwaltsvertrag unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen hat, muss darlegen und beweisen, dass seine Vertragsschlüsse nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgen. Ist ein auf ein begrenztes Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt deutschlandweit tätig, vertritt er Mandanten aus allen Bundesländern und erhält er bis zu 200 Neuanfragen für Mandate pro Monat aus ganz Deutschland, kann dies bei einer über die Homepage erfolgenden deutschlandweiten Werbung im Zusammenhang mit dem Inhalt seines Internetauftritts für ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- und Dienstleistungssystem sprechen (§§ 312c, 312g, 355 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 356 Abs. 3 Satz 2 BGB).

BGH, Urt. v. 19.11.2020 – IX ZR 133/19

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