Beitrag

Sexueller Übergriff

1. Die Vorschrift des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.

2. Eine erhebliche Einschränkung der Fähigkeit zur Bildung oder Äußerung des Willens i.S.v. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist gegeben, wenn die Fähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, gegenüber Personen ohne eine Beeinträchtigung deutlich herabgesetzt – aber noch nicht aufgehoben – ist. Dies kann namentlich daran liegen, dass das Tatopfer zustandsbedingt die Situation nicht in ihrer Tragweite oder nicht schnell genug erfasst oder Wahrnehmungsstörungen hat. Es kann auch daran liegen, dass es wegen kurzzeitiger Bewusstlosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen etc. in der Willensbildung oder Willensäußerung eingeschränkt ist.

3. Die tatrichterliche Wertung, dass der Täter einen Zustand des Opfers i.S.v. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB ausgenutzt hat, setzt bzgl. des Vorliegens des Zustands eine umfassende Gesamtwürdigung aller Umstände, auch solcher, die gegen das Vorliegen eines solchen Zustands sprechen können, voraus. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Hamm, Beschl. v. 16.2.2021 – 4 RVs 10/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das LG verworfen. Nach den Feststellungen des LG, das von einer Strafbarkeit des Angeklagten nach § 177 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 6 StGB ausgeht, beförderte der Angeklagte am Tattag kurz nach Mitternacht als Taxifahrer in dem von ihm geführten Taxi die damals 17-jährige, sexuell noch unerfahrene, bei ihren Eltern lebende und stark alkoholisierte Nebenklägerin von einer Feier nach Hause. Dort angekommen stellte die Nebenklägerin fest, dass sie ihre Handtasche mit dem ihr von den Eltern zur Verfügung gestellten Fahrgeld und den Haustürschlüsseln auf der Feier vergessen hatte. Der Angeklagte telefonierte sodann mit dem noch auf der Feier befindlichen Bruder der Nebenklägerin, welche zuvor die Verbindung auf ihrem Mobiltelefon hergestellt hatte. Dieser besprach mit dem Angeklagten, dass er bei den Eltern klingeln solle, um sein Geld zu bekommen. Die Nebenklägerin musste sich mehrfach übergeben. Angesichts ihres Zustandes – die Eltern hatten ihr den Genuss von „hartem“ Alkohol untersagt, den sie aber gleichwohl konsumiert hatte – wollte die Nebenklägerin nicht, dass die Eltern geweckt werden. Der Angeklagte klingelte nicht an deren Tür. Er erkannte den Zustand der Nebenklägerin, insbesondere, dass sie alkoholbedingt „motorisch sowie in ihrer Fähigkeit, einen klaren Willen zu bilden oder gar zu äußern, eingeschränkt war“, und machte sich diesen in der Folge zunutze: Er verbrachte die Nebenklägerin auf die Rückbank seines Taxis, legte sich zu ihr, entblößte ihren Unterleib, drückte ihr linkes Bein so zur Seite, dass auf der inneren Oberschenkelseite zwei Hämatome entstanden, und führte mit der Nebenklägerin den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der allgemeinen Sachrüge sowie mit mehreren Verfahrensrügen. Seine Revision hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt, wenn der Täter ausnutzt, dass die Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert. Dass die Nebenklägerin hier aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung ihres Willens erheblich eingeschränkt war, sei – so das OLG – durch die Beweiswürdigung nicht hinreichend belegt, was einen durchgreifenden, auf die Sachrüge hin beachtlichen Erörterungsmangel darstelle.

Das OLG teilt zunächst nicht die teilweise in der Literatur (etwa Fischer, StGB, 68. Aufl., § 177 Rn 28; Renzikowski, NJW 2016, 3554; vgl. auch: Spillecke, StraFo 2018, 361, 363) vertretene Auffassung, dass § 177 Abs. 2 Nr. StGB zu „unbestimmt“ sei. Man wisse nicht, was unter einer erheblich eingeschränkten Willensfähigkeit zu verstehen sei (so ausdrücklich Fischer, a.a.O.), so dass eine Differenzierung zwischen der Unfähigkeit, einen Willen zu bilden, und einer eingeschränkten Fähigkeit wissenschaftlich nicht möglich sei und es auch keine Anhaltspunkte dafür gebe, woran man dies erkennen können solle. Deshalb sei die Norm wegen eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verfassungswidrig. Das OLG legt hingegen die Unterscheidung zwischen Willensbildungs- und Willensäußerungsfähigkeit historisch anhand der Gesetzesmaterialien aus.

Danach müsse das Opfer nicht absolut unfähig sein, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. Diese Fähigkeit müsse aber erheblich eingeschränkt sein. Diese Erheblichkeit solle vorliegen, wenn die Einschränkung aus objektiver Sicht offensichtlich auf der Hand liegt und sich dem unbefangenen Beobachter ohne Weiteres aufdrängt. Nach der Gesetzesbegründung sollen etwa Menschen mit solchen Behinderungen erfasst werden, die mit einer erheblichen Intelligenzminderung einhergehen, aber auch stark betrunkene Menschen, deren Trunkenheitsgrad die Fähigkeit zur Willensbildung oder -äußerung nicht absolut ausschließe (BT-Drucks 18/9097, S. 24). Des Weiteren stelle schon der Gesetzgeber selbst eine Parallele zu den §§ 20, 21 StGB her (vgl. BT-Drucks a.a.O.), die sich nicht zuletzt angesichts der gewählten Begrifflichkeiten aufdrängt (vgl. insoweit auch Hörnle, NStZ 2017, 13, 17; Renzikowski a.a.O.; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn 34). Ähnlich, wie bei der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit i.S.v. § 21 StGB danach gefragt werde, ob das Hemmungsvermögen des Täters im Vergleich zu Personen ohne einen Defektzustand so deutlich herabgesetzt sei, dass der Täter den Tatanreizen deutlich weniger Widerstand leisten kann, sei bei § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB danach zu fragen, ob die Fähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, im Vergleich zu Personen ohne eine Beeinträchtigung deutlich herabgesetzt sei (so auch: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 177 Rn 8; Renzikowski, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Band 4, 1. Aufl. 2019, 3. Abschnitt., § 9 C.II.3.b.). Es gehe dem Gesetzgeber also um Fälle, in denen dem Tatopfer die Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – möglich ist, das Opfer aber zustandsbedingt noch keinen entgegenstehenden Willen gebildet oder diesen zu erkennen gegeben hat.

Dem entspreche das Ergebnis einer systematischen Auslegung: Könne das Tatopfer noch einen entgegenstehenden Willen bilden und diesen äußern und setze sich der Täter darüber hinweg, so greife § 177 Abs. 1 StGB ein. Sei das Opfer nicht mehr fähig, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, so greife § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB ein (BGH NStZ 2018, 33). Durch die Beschränkung der gesetzlichen Regelung auf körperliche oder psychische Ursachen des Zustands des Opfers, welche etwa Umstände wie Sprachschwierigkeiten, Schüchternheit (sofern diese nicht pathologisch ist) etc. ausschließt (Renzikowski, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius a.a.O.), erfahre der Straftatbestand eine weitere Konkretisierung. Angesichts der in den Gesetzesmaterialien gegebenen Beispiele und des Maßstabes für die Erheblichkeit („auf der Hand liegt“), womit verdeutlicht werde, dass nur geringfügige Beeinträchtigungen (wie etwa eine leichte Angetrunkenheit, die lediglich zu einer „gelockerten Atmosphäre“ führt) nicht ausreichen, hat das OLG nach alledem keine durchgreifenden Bedenken gegen die Bestimmtheit der Strafnorm.

Der OLG führt aber aus, dass die erhebliche Eingeschränktheit in deren Wertung vollständig dargelegt werden muss. Die Feststellung, „erheblich unter dem Einfluss von Alkohol zu stehen“, reiche hierfür nicht aus. Damit würde nur eine Ursache für einen möglichen Zustand, in dem die Nebenklägerin in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt war, benannt. Es fehle die gebotene umfassende tatrichterliche Gesamtwürdigung, dass sie sich auch tatsächlich zum Tatzeitpunkt in einem solchen Zustand befand. Insoweit sei eine umfassende Auseinandersetzung mit allen relevanten Umständen erforderlich, und zwar sowohl solchen, die für das Vorliegen des o.g. Zustands sprechen, als auch solchen, die dagegen sprechen. Die im Urteil geschilderten Umstände deuteten – so das OLG – sicherlich auf eine starke Trunkenheit und damit auf eine erhebliche („auf der Hand liegende“) Beeinträchtigung der Nebenklägerin, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, hin. Das LG versäume aber, auch die gegen eine erhebliche Beeinträchtigung sprechenden Umstände zu würdigen. So sei die Nebenklägerin laut festgestelltem Sachverhalt unmittelbar vor der Tat in der Lage gewesen, einen Willen dahin zu bilden, dass sie nicht wollte, dass der Angeklagte ihre Eltern wegen der Bezahlung des Taxigeldes weckt und auf diese Weise herauskommt, dass sich die Nebenklägerin über die Anweisung der Eltern, keinen „harten“ Alkohol zu trinken, hinweggesetzt hat. Hier habe sie die Situation erfasst und in kurzer Zeit einen entsprechenden Willen gebildet. Dabei würden die Urteilsgründe offenlassen, ob sie diesen Willen auch gegenüber dem Angeklagten artikuliert habe oder ob es aus anderen Gründen tatsächlich nicht dazu gekommen sei, dass er bei den Eltern der Nebenklägerin klingelte. Auch sei sie unmittelbar nach der Tat in der Lage gewesen, einen Willen dahin zu bilden und auch umzusetzen, trotz des Geschehens nicht ihre Eltern zu wecken, sondern durch ein „leicht zu öffnendes Kellerfenster in den Hausflur zu gelangen“ und sich vor die elterliche Wohnungstür zu setzen. Auch hier habe sie die Situation erfasst, den Willen gebildet, durch Nichtwecken der Eltern zu vermeiden, dass diese ihre (verbotswidrige) Alkoholisierung erkennen, und sodann entsprechend gehandelt. Außerdem bewerte das LG einerseits die Aussage der Nebenklägerin als nicht „besonders detailreich“, an anderer Stelle aber stelle es fest, dass sie sich auch an „originelle Details erinnerte, wie etwa das Geräusch beim Öffnen des Gürtels“. Letzteres könnte, was das LG nur im Rahmen der Wahrnehmungstüchtigkeit der Nebenklägerin erörtert, auf eine womöglich nicht erhebliche Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten im Rahmen der Willensbildung hindeuten. Soweit die Nebenklägerin – nach mehreren in den Urteilsgründen wiedergegebenen Aussagen – eine Erinnerungslücke für den Zeitraum zwischen dem letzten Erbrechen und dem Entblößen des Unterleibes auf dem Rücksitz des Taxis aufweise, was auf eine vorübergehende Bewusstlosigkeit hindeuten könnte, enthalte das angefochtene Urteil insoweit keine diesbezügliche Feststellung.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Zunächst nichts Neues. Auch wenn u.a. Fischer (a.a.O.) in seinem Kommentar nachvollziehbar das Bestimmtheitsgebot des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB anzweifelt, wird dies natürlich von der Rechtsprechung gehalten.

2. Begrüßenswert an der Entscheidung des OLG Hamm ist, dass eine Gesamtwürdigung aller in Betracht kommenden Umstände vorgenommen werden muss. Es soll eben nicht allein auf den Umstand, den Zeitpunkt ankommen, an dem die Fähigkeit, den entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, abhandengekommen sein soll, sondern auf das Gesamtbild in unmittelbarer Nähe zur vorgeworfenen Tat. Hierbei sind insbesondere Umstände mit in Erwägung zu ziehen, bei denen einen Willensbildung und -äußerung möglich war. Dies dürfte den AG erhebliche Mühe bei der Urteilsfindung bereiten und gibt der Verteidigung die Pflicht auf, den gesamten vorgeworfenen Tatablauf zu hinterfragen und zu durchleuchten. Sexualdelikte werden oftmals mit Samthandschuhen angefasst, da gerade beim Vorwurf des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB der Sexualakt in der Regel nicht abgestritten, sondern die Äußerung oder Bildung des Willens hinterfragt wird. Um Opferzeugen zu schonen, wird m.E. oftmals nicht zweifelnd nachgefragt. Das OLG Hamm gibt hier Rückenwind und stellt gerade darauf ab, dass alle Umstände für die Beurteilung des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB von Bedeutung sind.

RA/FAStR Harald Stehr, Göppingen

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