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Rückwirkende Beiordnung des Pflichtverteidigers

Zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers gibt es auch nach Umsetzung der Richtlinie 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 keinen Anlass. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21

I. Sachverhalt

Der rechtskräftig verurteilte Beschwerdeführer ist in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Anlässlich einer anstehenden Entscheidung zur Überprüfung der Fortdauer der Maßregel beantragte er die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Der Antrag wurde von der StVK zunächst nicht verbeschieden und später, nachdem bereits die Fortdauer der Maßregel angeordnet worden war, zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde des Verurteilten hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des OLG ist das Rechtsmittel wegen prozessualer Überholung gegenstandslos geworden und daher mangels Beschwer unzulässig. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers liege allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Dieses Ziel sei nach Durchführung des Überprüfungsverfahrens unter Mitwirkung eines Wahlverteidigers bereits erreicht.

Hieran habe auch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 nichts geändert. Auch ergebe sich aus der der Reform zugrunde liegenden PKH-Richtlinie nicht, dass der Betroffene in jedem Fall von den Kosten seiner Verteidigung freizuhalten wäre. Vielmehr müsse die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein. Ein solches Erfordernis bestehe jedoch nicht mehr, da das Überprüfungsverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Und das OLG schloss messerscharf, dass nicht sein kann was nicht sein darf – so oder so ähnlich könnte man die vorliegende Entscheidung überschreiben, die sich durch den offensichtlichen Willen, eine nachträgliche Beiordnung trotz rechtzeitig gestellten Antrags unbedingt zu verhindern, auszeichnet und darüber hinaus von einer bemerkenswerten Ignoranz gegenüber der inzwischen von zahlreichen AG und LG, aber auch vom OLG Nürnberg (Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962-963/20, StRR 1/2021, 21) vertretenen Gegenauffassung geprägt ist. So wird die Entscheidung des OLG Nürnberg zwar erwähnt, weshalb sie unzutreffend sein soll, bleibt indes weitestgehend das Geheimnis des Senats. Insbesondere unterbleibt jedwede Auseinandersetzung mit dem in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO normierten Unverzüglichkeitsgebot.

Richtig ist lediglich, dass eine Finanzierung der Verteidigung in der PKH-Richtlinie nur dann vorgesehen ist, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie). Dies mag nicht der Fall sein, wenn kein Beiordnungsgrund nach § 140 vorliegt. Es ist jedoch bereits im Ansatz verfehlt, wenn das OLG mit einem Satz ein solches Interesse lapidar mit der „Begründung“ verneint, dass das Verfahren abgeschlossen sei. Das hier zu schützende Interesse der Rechtspflege an einem rechtsstaatlichen Verfahren steht nicht zur Disposition eines einzelnen Gerichts, und schon gar nicht liegt es in dessen Macht, jenes Interesse allein durch – gesetzwidrige – Untätigkeit wegfallen zu lassen. Verteidigern kann angesichts solcher Entscheidungen nur geraten werden, mit allem, was die StPO hergibt, sowie gegebenenfalls auch mit sonstigen Rechtsbehelfen (Dienstaufsichtsbeschwerde) auf eine zeitnahe rechtsmittelfähige Verbescheidung des Beiordnungsantrags hinzuwirken und ein „Liegenlassen“, wie es auch der Gesetzgeber gerade verhindern wollte, zu unterbinden. Die insoweit möglicherweise erforderlich werdenden Anträge dürften in dem einen oder anderen Verfahren zu atmosphärischen Störungen führen; diese sind dann freilich Entscheidungen wie der vorliegenden geschuldet.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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