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Rückwirkende Anwendung der neuen strafrechtlichen Vermögensabschöpfung

1. Die Vermögensabschöpfung nach dem Reformgesetz vom 13.4.2017 ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter (Fortführung von BVerfGE 110, 1).

2. Die in Art. 316h S. 1 EGStGB angeordnete Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist nicht an Art. 103 Abs. 2 GG, sondern an dem allgemeinen Rückwirkungsverbot zu messen. Sie ist hier ausnahmsweise zulässig. (Leitsätze des Gerichts)

BVerfG, Beschl. v. 10.2.2021 – 2 BvL 8/19

I. Sachverhalt

Im Oktober 2017 hat das LG zwei Angeklagte von Vorwürfen des Verstoßes gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz wegen absoluter Verjährung freigesprochen. Gegen die beiden von den Angeklagten geleiteten nebenbeteiligten Unternehmen hat es die selbstständige Einziehung des Wertes von Taterträgen nach Art. 316h S. 1 EGStGB i.V.m. §§ 73 Abs. 1, 73b Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 73c S. 1, 76a Abs. 2 S. 1 StGB in Höhe von rund 10 Millionen und rund 72.000 EUR angeordnet. Der BGH (NJW 2019, 1891) hat das Revisionsverfahren, soweit es die Einziehung des Wertes von Taterträgen betrifft, ausgesetzt. Nach seiner Überzeugung verstößt Art. 316h S. 1 EGStGB insoweit gegen das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot. Auf dessen Vorlage hin hat das BVerfG wie in Leitsatz 2 ausgeführt entschieden.

II. Entscheidung

Art. 316h S. 1 EGStGB sei mit dem GG vereinbar, auch soweit er die Neuregelungen des Rechts der Vermögensabschöpfung in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten bereits vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes Verfolgungsverjährung eingetreten war. Die Einziehung von Taterträgen oder deren Wert sei keine Strafe i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG (näher Leitsatz 1, BVerfGE 110, 1 = NJW 2004, 1001). Art. 316h S. 1 EGStGB sei mit den im Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar. Die selbstständige Einziehung von Taterträgen aus verjährten Erwerbstaten stelle eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) dar, soweit das neue Vermögensabschöpfungsrecht auf Sachverhalte anwendbar ist, in denen bei dessen Inkrafttreten am 1.7.2017 bereits Verfolgungsverjährung eingetreten war. Grundsätzlich sei eine „echte“ Rückwirkung verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Ausnahme sei aber dann gegeben, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern. In diesen Fällen müsse der Vertrauensschutz zurücktreten.

Die hier zu beurteilende „echte“ Rückwirkung sei durch solche überragenden Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolge mit der Anordnung in Art. 316h S. 1 EGStGB das legitime Ziel, auch für verjährte Taten vermögensordnend zugunsten des Geschädigten einer Straftat einzugreifen und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen. Dieses Ziel sei überragend wichtig. Durch die Vermögensabschöpfung solle sowohl dem Straftäter als auch der Rechtsgemeinschaft vor Augen geführt werden, dass eine strafrechtswidrige Vermögensmehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann. Die Entziehung solcher strafrechtswidrig erlangter Werte solle die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken.

Demgegenüber stehe die Vertrauensschutzposition der von der Einziehung von Taterträgen Betroffenen zurück. Die Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Straftat sei die schärfste dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Form der Missbilligung menschlichen Verhaltens. Jede Strafnorm enthalte somit ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Daraus folgend werde dem Täter auch in vermögensrechtlicher Hinsicht der Schutz der staatlichen Rechtsordnung weitgehend vorenthalten. So sei gem. § 134 BGB ein gegen ein gesetzliches Verbot verstoßendes Rechtsgeschäft grundsätzlich nichtig und könne über das Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) rückabgewickelt werden. § 823 Abs. 2 BGB statuiere zudem bei Verstößen gegen individualschützende Strafgesetze einen umfassenden Schadensersatzanspruch des Geschädigten. Überdies lasse das Zivilrecht einen Eigentumserwerb zumindest im Bereich der Eigentumsdelikte kaum zu, da insbesondere der gutgläubige Erwerb durch Dritte gemäß § 935 BGB grundsätzlich ausgeschlossen sei. Soweit durch Täuschung oder Drohung auf den Geschädigten eingewirkt wurde, bestehen zudem weitgehende Anfechtungsmöglichkeiten (§ 123 BGB). Diese grundsätzliche gesetzgeberische Bewertung ändere sich durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung hinsichtlich der Straftat nicht. Da der deliktische Erwerbsvorgang durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung seitens der staatlich verfassten Gemeinschaft nicht nachträglich gebilligt wird, bleibe auch das auf diese Weise erworbene Vermögen weiterhin mit dem Makel deliktischer Herkunft behaftet. Die fortwährende Bemakelung von Vermögenswerten infolge strafrechtswidrigen Erwerbs stelle eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips dar, dass das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig sei.

Nicht schutzwürdig sei in derartigen Fällen nicht nur der bereicherte Straftäter selbst, sondern auch der Drittbereicherte, soweit dieser nicht gutgläubig eigene Dispositionen im Vertrauen auf die Beständigkeit seines Vermögenserwerbs getroffen hat. Das Vertrauen von Personen, die deliktisch erlangte Vermögenswerte in kollusivem Zusammenwirken mit dem Straftäter als dessen Rechtsnachfolger, als von ihm Vertretene oder sonst ohne eigene schutzwürdige Vertrauensbetätigung erworben haben, sei nicht stärker zu schützen als das des Straftäters selbst. § 73b Abs. 1 StGB stelle dabei sicher, dass von der Vermögensabschöpfung keine in diesem Sinne schützenswerten Dritten erfasst werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Fragen zur Rückwirkung der Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vor bald vier Jahren gem. Art. 316h S. 1 EGStGB dürften sich in der Praxis wegen des Zeitablaufs kaum mehr stellen (aktuelle Rechtsprechung zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung bei Deutscher, StRR 12/2020, 6). Gleichwohl ist der vorliegende Beschluss des BVerfG in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen bekräftigt das BVerfG seine Einordnung der Einziehung nicht als Strafe, sondern als Maßnahme eigener Art. Zum anderen legt es erneut die verfassungsrechtlichen Grundsätze zur echten Rückwirkung dar. Schließlich und vorrangig erläutert das BVerfG die Zielsetzung des Gesetzgebers bei der Reform und bewertet sie als für überragende Belange des Gemeinwohls erforderlich, was in gleicher Weise auch die Drittbereicherung erfasst. Für aktuelle Fälle ist zu beachten: Bei Eintritt der Verfolgungsverjährung ist grundsätzlich auch eine Einziehung ausgeschlossen (§§ 11 Abs. 1 Nr. 8, 78 Abs. 1 S. 1 StGB). Eine selbstständige Einziehung des Tatertrags oder dessen Wertes wie hier ist aber auch nach Eintritt der Verfolgungsverjährung zulässig (§§ 76a Abs. 2 S. 1, 78 Abs. 1 S. 2 StGB).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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