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Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers auch ohne ausdrücklichen Antrag

Für die gerichtliche Bestellung eines Pflichtverteidiger im Vorverfahren bedarf es nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 keines Antrags des Beschuldigten. Dies gilt nicht nur für Fälle, in denen bereits Anklage erhoben worden und die Verfahrensherrschaft auf das angerufene Gericht übergangenen ist, sondern gerade auch für ermittlungsrichterliche Entscheidungen im Vorverfahren.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 4.6.2021 – 2 BGs 254/21

1. Sachverhalt

Der GBA führte ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 5, 129b Abs. 2 S. 1, 2 StGB). Der Beschuldigte befand sich als Patient in einem Klinikum G. Er war dorthin aus einer Klinik wegen Angst- und Panikzuständen verlegt worden und hatte über das Gefühl berichtet, verfolgt zu werden. In der Folgezeit zeigte er sich motorisch unruhig und teilweise verbal bedrohlich und musste an zwei Tagen wegen fremdaggressiven Verhaltens fixiert werden.

Am 22.4.2021 wurden die Wohnräume des Beschuldigten und unter Hinzuziehung einer Psychologin des BKA im Einverständnis des Beschuldigten auch das „Pflegezimmer im Klinikum G“ durchsucht. Hierbei wurden verschiedene Datenträger beschlagnahmt. Im Zuge der Durchsuchung seines „Pflegezimmers“ wurde der Beschuldigte nach Eröffnung des Tatvorwurfs über sein Schweige- und Konsultationsrecht, nicht hingegen nach § 136 Abs. 1 S. 5 StPO belehrt. Der Beschuldigte „forderte“ hierauf einen Rechtsanwalt. Im Vermerk der zuständigen POKin heißt es: „[Dies] wurde ihm gewährt.“ Zudem wird ausgeführt, dass der Beschuldigte angegeben habe, „eine Vernehmung nur in Anwesenheit eines Rechtsbeistandes durchführen“ zu wollen; bis zum Eintreffen eines noch zu bestellenden Rechtsanwalts habe er „dem Fortgang der Maßnahmen“ zugestimmt. Der Anruf in einem Rechtsanwaltsbüro blieb ohne Erfolg.

In der Folgezeit äußerte sich der Beschuldigte wiederholt – im Rahmen von „mehreren Gesprächen“ mit den Polizeikräften nach Hinweisen auf sein Schweigerecht – auch zur Sache. Mit Beschluss vom 25.4.2021 ordnete das AG die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten „in dem abgeschlossenen Teil des Fachklinikums G bis zum Ablauf des 5.6.2021“ an. Der Beschuldigte wurde dort medikamentös behandelt. Am 4.6.2021 erfolgte eine telefonische Rücksprache des Ermittlungsrichters zur Frage der Pflichtverteidigerbestellung mit dem GBA. Dem GBA wurde nahegelegt, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, anderenfalls sei beabsichtigt, von Amts wegen die gerichtliche Bestellung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin zu prüfen. Der GBA nahm Stellung und führte u.a. aus, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers zum jetzigen Zeitpunkt nicht geboten sei. Ein Antrag gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO liege nicht vor, und auch die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 3 StPO seien nicht erfüllt.

II. Entscheidung

Der BGH hat dem Beschuldigten gem. §§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3, 142 Abs. 3 Nr. 1 StPO einen Pflichtverteidiger bestellt. Die Bestellung sei von Amts wegen geboten.

Nach Auffassung des BGH kann es dahinstehen, ob die Erklärung des Beschuldigten vom 22.4.2021, einen Rechtsanwalt hinzuziehen zu wollen, bereits als Antrag auszulegen sei. Denn eines ausdrücklichen Antrags, der die gerichtliche Entscheidung erst erwirke, bedürfe es nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ vom 10.12.2021 für die gerichtliche Bestellung nicht mehr. Dies gelte – so der BGH – nicht nur für Fälle, in denen bereits Anklage erhoben worden und die Verfahrensherrschaft auf das angerufene Gericht übergegangen sei (§ 142 Abs. 3 Nr. 2 StPO i.V.m. § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO), sondern gerade auch für ermittlungsrichterliche Entscheidungen im Vorverfahren.

Für dieses Normverständnis spricht nach Auffassung des BGH zunächst der Gesetzeswortlaut. Denn nach dem neugefassten § 141 Abs. 2 S. 1 StPO werde dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger habe, in den Fällen der notwendigen Verteidigung „unabhängig“ von dessen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt. Dieser ausdrückliche Hinweis auf die fehlende Antragsnotwendigkeit gewinne dadurch an Gewicht, dass an dieser Stelle des Regelungsgefüges des Rechts der notwendigen Verteidigung lediglich der Zeitpunkt für die Bestellungsentscheidung bestimmt werde und die formalen Fragen systematisch § 142 StPO überantwortet würden. Denn damit bringe der Gesetzgeber erkennbar zum Ausdruck, dass der Zeitpunkt der gerichtlichen Bestellungsentscheidung nicht von prozessualen Erwirkungshandlungen der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten abhängig sei und diese nicht – gerichtlich unkontrolliert – zu deren Disposition stehe. Auch enthalte der Wortlaut des § 142 StPO keinen Hinweis auf die Notwendigkeit des Antrags eines Verfahrensbeteiligten. Die darin geregelten Antragsbefugnisse ließen keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass daneben eine gerichtliche Bestellung unabhängig von solchen prozessualen Erwirkungshandlungen ausgeschlossen sein sollte.

Daneben streite insbesondere auch die Entstehungsgeschichte für eine von Prozesshandlungen der Verfahrensbeteiligten unabhängige gerichtliche Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren, denn die Umsetzung der PKH-Richtlinie bezwecke – so der BGH – gerade eine effektive Gewährleistung des Anspruchs des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers im Interesse der Rechtspflege. Zudem stehe gerade der Schutz des Beschuldigten durch den Zugang zu einer effektiven Verteidigung im Vordergrund.

III. Bedeutung für die Praxis

1. M.E. eine zutreffende Entscheidung, die deutlich darauf hinweist, dass bei der Neuregelung der Schutz des Beschuldigten im Vordergrund stand und irgendwelche „prozessualen Erwirkungshandlungen der Staatsanwaltschaft“ und/oder Gerichts für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Bedeutung sind. Wenn die Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen, ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Damit sollte das „Herumgeeiere“ in der Praxis nun aber endgültig erledigt sein. Und: Ist das die Vorgabe des BGH, dann ist es nur konsequent, wenn auch, wie es das OLG Bamberg (StRR 8/2021, 19) und das OLG Nürnberg (StRR 1/2021, 21) und die wohl h.M. der LG/AG tun, die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers als zulässig angesehen und sie nicht weiterhin mit dem unseligen Kostenargument abgelehnt wird. Denn die Praxis der zögerlichen Bestellung oder Nichtbestellung eines Pflichtverteidigers wird sich nur dann ändern, wenn die Ermittlungsbehörden und auch die AG, die nicht beiordnen, dafür zumindest dadurch „bestraft“ werden, dass nachträglich beigeordnet wird und der Rechtsanwalt seine gesetzlichen Gebühren abrechnen kann. Denn letztlich ist es m.E. dieses Kostenargument, das eigentlich der Grund ist für die OLG und anderen Gerichte, einen Pflichtverteidiger nicht nachträglich beizuordnen.

2. Im Übrigen: Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum der GBA die Äußerungen des Beschuldigten, der einen Rechtsanwalt „forderte“ und angegeben hat, „eine Vernehmung nur in Anwesenheit eines Rechtsbeistandes durchführen“ zu wollen, nicht als ausdrücklichen Antrag angesehen hat. Ich räume ein: Der wäre natürlich lästig gewesen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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