Zur Angemessenheit der Vergütung eines Pflichtverteidigers.
(Leitsatz des Gerichts)
VerfGH Berlin, Beschl. v. 12.5.2021 – 175/20
I. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt und war ab März 2016 als Wahlverteidiger für H tätig. Am 13.7.2016 bestellte das LG den Beschwerdeführer als Pflichtverteidiger. Am 20.10.2016 wurde ein mit dem Beschwerdeführer in einer Partnerschaftsgesellschaft verbundener Rechtsanwalt als weiterer Pflichtverteidiger bestellt. Nach 71 Sitzungstagen verurteilte das LG H am 24.1.2018 wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwölf Fällen und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Beschwerdeführer beantragte zunächst im Januar 2019 die Festsetzung einer Pauschgebühr für das Vorverfahren und die Hauptverhandlung in Höhe von 104.672,97 EUR (brutto). Zur Begründung führte er aus, die Pflichtvergütung reiche wegen des Umfangs und der besonderen Schwierigkeit des Verfahrens nicht aus. Der Bezirksrevisor hat hierzu Stellung genommen und eine Pauschgebühr für das Vorverfahren und die Hauptverhandlung in Höhe von insgesamt 41.000 EUR für angemessen angesehen. Hiervon seien die Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 38.201 EUR (davon 685 EUR für das Vorverfahren) abzuziehen, so dass ein überschießender Betrag von 2.799 EUR verbleibe. Die Wahlanwaltsgebühren für das gesamte Verfahren betragen 84.962,50 EUR, die Mittelgebühren 47.226,25 EUR.
Das KG hat den Antrag des Beschwerdeführers vollständig zurückgewiesen. Das hat es u.a. damit begründet, dass das Ermittlungsverfahren den Beschwerdeführer zwar stark beansprucht habe und die Hauptverhandlung schwierig gewesen sei. Diese Umstände seien indes kompensiert durch gesetzlich vorgesehene erhöhte Gebühren für Schwurgerichtsverfahren, eine Belastungsverringerung durch den zweiten Pflichtverteidiger und die Möglichkeit der Bearbeitung weiterer Mandate. Bei einer Gesamtschau liege daher ein unzumutbares Sonderopfer nicht vor.
Dagegen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der VerfGH hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, dass die unzureichende Vergütung des Rechtsanwalts im Vorverfahren einen Eingriff in die Berufsfreiheit als Rechtsanwalt darstelle. Eine Kompensation des erhöhten Aufwands im Vorverfahren im Wege einer Gesamtschau käme zwar grundsätzlich, nicht aber im vorliegenden Verfahren in Betracht, da das Hauptverfahren weder unterdurchschnittlich schwierig noch unterdurchschnittlich umfangreich gewesen sei (wegen weiterer Einzelheiten VerfGH Berlin, Beschl. v. 22.4.2020 – 177/19, RVGreport 2020, 299 = StRR Sonderausgabe 11/2020, 10).
Der Bezirksrevisor hat sodann eine ergänzende Stellungnahme abgegeben und dabei im Wesentlichen an seiner ersten Stellungnahme festgehalten. Die Bewilligung einer Pauschgebühr für das Vorverfahren sei nur im Bereich des Vierfachen der Gebühren (gemeint sind offenbar die Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 685 EUR) angemessen. Der Rechtsanwalt hat nunmehr eine Gebühr nur für das Vorverfahren in Höhe von 25.000,00 EUR beantragt. Das KG hat für das Vorverfahren eine Pauschgebühr in Höhe von 812,50 EUR, 127,50 EUR mehr als die bereits bewilligten Gebühren in Höhe von 685 EUR, bewilligt. Es hat nun zwar die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 S. 1 RVG nach erneuter Prüfung bejaht. Für die Frage der Angemessenheit der Vergütung sei eine Gesamtschau der im Vorverfahren und im Hauptverfahren erworbenen Gebührenansprüche vorzunehmen. In Rahmen einer solchen Gesamtbetrachtung verbleibe ein nicht kompensierter Zeitaufwand für die aufwendigere Tätigkeit des Beschwerdeführers im Vorverfahren. Es sei aber nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer im Vorverfahren in außergewöhnlichem Umfang beansprucht und seine Arbeitskraft überwiegend gebunden gewesen sei. Die Vernehmungen des Mandanten als Zeuge in anderen Verfahren seien keine verfahrensbezogene Tätigkeit und dürften daher nicht berücksichtigt werden. Die Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 S. 1 RVG sei zwar der Höhe nach nicht beschränkt. Die Höchstgebühr des Wahlanwalts bilde jedoch regelmäßig die obere Grenze für die Pauschgebühr des gerichtlich bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalts. Nur in Ausnahmefällen käme eine Überschreitung dieser Grenze in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall sei hier nicht gegeben.
Dagegen hat der Pflichtverteidiger erneut Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt, dass sich das KG über die Bindungswirkung des Beschlusses des VerfGH vom 22.4.2020 hinweggesetzt habe. An die in diesem Beschluss getroffenen Feststellungen sei das KG gem. § 30 Abs. 1 VerfGHG gebunden. Die Bindungswirkung erfasse nicht nur den Tenor, sondern auch die die Entscheidung tragenden Gründe. Die Verfassungsbeschwerde hatte (erneut) Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des VerfGH hat das KG die Bindungswirkung des Beschlusses des VerfGH vom 22.4.2020 nicht hinreichend berücksichtigt und daher gegen Art. 1 Abs. 2 VvB i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen. Dies stelle eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 7 VvB dar.
Nach § 30 VerfGHG binden die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes die Verfassungsorgane sowie die Gerichte und Behörden des Landes Berlin. Das BVerfG habe für die vergleichbare Bestimmung in § 31 Abs. 1 BVerfGG entschieden, dass die Entscheidungen des BVerfG eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung insofern entfalten, als die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung von den Gerichten in allen künftigen Fällen beachtet werden müssen (BVerfG, Beschl. v. 1.7.2020 – 1 BvR 2838/19). Dabei seien die den Tenor tragenden Entscheidungsgründe jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck kommenden Gedankengang entfällt. Nicht tragend seien dagegen bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs stehen. Bei der Beurteilung, ob ein tragender Grund vorliege, sei von der niedergelegten Begründung in ihrem objektiven Gehalt auszugehen (BVerfG, Beschl. v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99). Die Nichtbeachtung der Bindungswirkung stelle einen Verstoß der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz dar (BVerfG, Beschl. v. 10.6.1975 – 2 BvR 1018/74).
Ein den Tenor tragender Entscheidungsgrund liege hier in der Feststellung des VerfGH, wonach die weit überdurchschnittliche Inanspruchnahme im vorbereitenden Verfahren nicht durch einen unterdurchschnittlichen Umfang oder eine unterdurchschnittliche Schwierigkeit des Hauptverfahrens vor dem Schwurgericht kompensiert worden sei. Soweit das KG erklärt, dass die Frage einer Gesamtbetrachtung der im Vorverfahren und im Hauptverfahren erworbenen Gebührenansprüche und die Möglichkeit einer Kompensation neu zu bewerten seien, stelle dies eine Missachtung der Bindungswirkung dar. Ein weiterer den Tenor tragender Entscheidungsgrund findet sich nach Ansicht des VerfGH in der Feststellung des VerfGH, dass die Stellung des Mandanten als Hauptbelastungszeuge im Zusammenhang mit verschiedenen Tatkomplexen bei der Bewertung der weit überdurchschnittlichen Bindung des Beschwerdeführers im vorbereitenden Verfahren zu berücksichtigen gewesen sei. Soweit das KG annehme, die Vernehmung des Mandanten als Zeuge in anderen Verfahren sei keine verfahrensbezogene Tätigkeit und könne daher für die Bewilligung der Pauschgebühr nicht berücksichtigt werden, verletze es die Bindungswirkung des Beschlusses des VerfGH. Schließlich habe der VerfGH bindend festgestellt, dass der Rechtsanwalt in der Bearbeitung anderer Mandate durch das Vorverfahren „erheblich eingeschränkt“ und „überdurchschnittlich gebunden“ gewesen ist. Soweit das KG erklärt, der Beschwerdeführer sei durch seine Inanspruchnahme im Vorverfahren nicht übermäßig belastet gewesen, liege hierin ein weiterer Verstoß gegen die Bindungswirkung. Auf diesen gegen die Bindungswirkung des Beschlusses des VerfGH verstoßenden Feststellungen beruhe die Annahme des KG, für das Vorverfahren sei keine über den Betrag von 812,50 EUR hinausgehende Pauschgebühr zu bewilligen.
Nach Ansicht des VerfGH hat das KG zudem bei der Höhe der Bemessung der Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 S. 1 RVG Bedeutung und Tragweite der Berufsfreiheit des Pflichtverteidigers verkannt. Die Pflichtverteidigerbestellung sei ein Eingriff in die durch die Verfassung von Berlin grundrechtlich geschützte Berufsausübung (vgl. zu Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 1.2.2005 – 2 BvR 2456/04 und v. 28.4.1975 – 2 BvR 207/75). Der Eingriff diene der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und damit dem Gemeinwohl. Der Gesetzgeber habe aber die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe der Pflichtverteidigung nicht als eine vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht angesehen, sondern dem Pflichtverteidiger eine Vergütung zuerkannt. Dass sein Vergütungsanspruch unter den gesetzlichen Rahmenhöchstgebühren des Wahlverteidigers liege, sei durch einen im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt sei. Das Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung gebiete in besonders umfangreichen oder besonders schwierigen Verfahren, seiner Inanspruchnahme Rechnung zu tragen und ihn entsprechend zu vergüten. § 51 Abs. 1 S. 1 RVG solle dies sicherstellen (BVerfG NJW 2011, 3079 = RVGreport 2011, 378 m.w.N.; s.a. BT-Drucks 15/1971, S. 201).
Der VerfGH habe in seinem Beschluss vom 22.4.2020 ausführlich dargestellt, dass dem Beschwerdeführer ein unzumutbares Sonderopfer wegen der Zuerkennung einer zu geringen Gebühr für das Vorverfahren auferlegt und sein Grundrecht aus Art. 17 VvB dadurch verletzt worden sei. Ein solches Sonderopfer liegt auch nach der nunmehr geringfügig über der Pflichtgebühr liegenden Pauschgebühr von 812,50 EUR vor. Ein Mehrbetrag von lediglich 127,50 EUR sei nicht geeignet, das vom VerfGH dargestellte unzumutbare Sonderopfer durch den erhöhten Aufwand im Vorverfahren auszugleichen. Hierbei sei zu berücksichtigten, dass die Wahlanwaltshöchstgebühren für das gesamte Verfahren laut der Stellungnahme des Bezirksrevisors 84.962,50 EUR und damit mehr als das Doppelte der dem Beschwerdeführer bislang gewährten Gebühren betragen.
III. Bedeutung für die Praxis
Es ist m.E. schon bemerkenswert, dass der VerfGH Berlin nun das KG zum zweiten Mal zur Ordnung rufen muss und die Bewilligung einer Pauschgebühr in einem Schwurgerichtsverfahren mehr als deutlich anmahnt. Im ersten Durchgang hatte das KG die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG insgesamt abgelehnt, was der VerfGH als verfassungswidrig gerügt hatte (vgl. wegen der Einzelheiten VerfGH Berlin, Beschl. v. 22.4.2020 – 177/19, RVGreport 2020, 299 = StRR Sonderausgabe 11/2020, 10). Nun also im zweiten Durchgang noch einmal. Das KG hat jetzt zwar eine Pauschgebühr bewilligt, hat dabei aber die gesetzlichen Gebühren lediglich um 127,50 EUR „erhöht“, was dem VerfGH Berlin offensichtlich gar nicht gefällt. M.E. zu Recht. Denn das KG hat schlicht die Bindungswirkung des Beschlusses des VerfGH vom 22.4.2020 übersehen und hat sich im Grunde von der Einschätzung des Verfahrens und seinem Rechtsstandpunkt betreffend die Pauschgebühr für den Pflichtverteidiger kaum entfernt. Die gewährten 127,50 EUR sind lächerlich und müssen sowohl vom VerfGH als auch vom Pflichtverteidiger als Schlag ins Gesicht empfunden worden sein. Die Antwort des VerfGH war daher deutlich und es ist zu hoffen, dass das KG nun die Rechtsauffassung des VerfGH beachtet und eine vernünftige Entscheidung findet. Im Übrigen: Das KG mag sich mal überlegen, welche Kosten es durch seine verfassungswidrigen Entscheidungen verursacht hat. Das Geld hätte man besser dem Pflichtverteidiger zusätzlich als Pauschgebühr bewilligt.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg