Die Durchsuchungsanordnung wird ihrer Begrenzungsfunktion nicht gerecht, wenn sie die dem Beschuldigten (hier einem Rechtsanwalt) vorgeworfene Geltendmachung unberechtigter Forderungen im Auftrag eines Inkassounternehmens im Hinblick auf den Tatzeitraum, die Anzahl der Taten und den Gegenstand entsprechender Abmahnungen nicht näher eingrenzt und die Suche nach einer unbestimmten Vielzahl denkbarer Unterlagen gestattet. (Leitsatz des Verfassers)
BVerfG, Beschl. v. 29.7.2020 – 2 BvR 1324/15
I. Sachverhalt
Der Beschuldigte ist Rechtsanwalt. Er wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Durchsuchung seiner Kanzleiräume auf der Grundlage von § 102 StPO wegen des gegen ihn gerichteten Verdachts des versuchten Betruges. Dem Beschuldigten wird die Beteiligung an der systematischen betrügerischen Geltendmachung nicht bestehender oder überhöhter Forderungen im Wege des Inkassos, durch Anwaltsschreiben und gerichtliche Geltendmachung vorgeworfen. Die Durchsuchung ist vom AG am 24.3.2015 angeordnet worden. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Gegenstände und Unterlagen dienen, und zwar sollte sie insbesondere auf Verträge mit Auftraggebern, Schriftwechsel mit Kunden und angeblichen Schuldnern, anwaltliche Handakten, Abrechnungsunterlagen, Gerichtsschriftwechsel, Stellungnahmen bei Beschwerden gegenüber der Anwaltskammer, Kontoauszüge, Computer, sonstige elektronische Speichermedien und E-Mail-Verkehr gerichtet sein.
Die Durchsuchungsanordnung wurde am 15.4.2015 vollzogen. Es wurden umfangreiche Unterlagen sichergestellt. Der Beschuldigte hat gegen die Durchsuchungsanordnung am 8.5.2015 Beschwerde eingelegt. Die hatte keinen Erfolg. Die Verfassungsbeschwerde des Beschuldigten hatte aber Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des BVerfG genügte die Durchsuchungsanordnung des AG im Hinblick auf die von ihr zu erfüllende Begrenzungsfunktion erkennbar nicht den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung (vgl. dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 1580 ff.). Bereits die Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses sei nicht geeignet sicherzustellen, dass die Ermächtigung der Exekutive, im Wege der Durchsuchung in den grundrechtlich geschützten Bereich des Beschwerdeführers einzugreifen, messbar und kontrollierbar bleibe.
Es werde zwar noch deutlich, dass maßgebliche Täuschungshandlung hier die Geltendmachung von unberechtigten Forderungen im Auftrag des Inkassounternehmens F durch anwaltliche Schreiben des Beschuldigten sein soll, nämlich neben den Forderungen der T Ltd. für angeblich in Anspruch genommene Telekommunikationsdienste solche für angebliche Urheberrechtsverletzungen für verschiedene Forderungsinhaber aus dem Bereich Film. An einer ausreichenden zeitlichen Begrenzung fehle es jedoch; ein Tatzeitraum werde in Bezug auf die angeblichen Forderungen der T Ltd. nur unzureichend eingegrenzt.
Der Durchsuchungsbeschluss gestatte darüber hinaus die Suche nach einer unbestimmten Vielzahl denkbarer Unterlagen, die im Zusammenhang mit der auftragsweisen Geltendmachung von Forderungen durch den Beschwerdeführer stehen. Aufgrund der Angabe „u.a.“ könnten dies neben den vom Beschuldigten geltend gemachten und im Durchsuchungsbeschluss genannten Forderungen der T Ltd. auch Forderungen anderer, nicht näher eingegrenzter Auftraggeber aus dem Bereich Film sein.
Es komme hinzu, dass die einzelnen Taten nicht hinreichend konkretisiert würden. Die einzige ungenaue Angabe in der Durchsuchungsanordnung sei insoweit, dass „derzeit“ in Bezug auf die Forderungen der T Ltd. „laut polizeilicher Auflistung Bl. 216 von weit über 100 Fällen auszugehen [sei], wobei die tatsächliche Anzahl deutlich höher sein dürfte“. Das Gleiche gelte für die Tatmodalitäten: Im Hinblick auf die vermeintlich betrügerischen Abmahnungen wegen Urheberrechtsverletzungen würden weder einzelne Geschädigte namhaft gemacht noch werde deutlich, welche konkreten Urheberrechtsverletzungen – der Durchsuchungsbeschluss spreche hier nur von dem Konsum und dem Hochladen von nicht näher bezeichneten „Filmen“ – in Rede stehen.
Ungeachtet des Umstandes, dass die in der Durchsuchungsanordnung genannten polizeilichen Ermittlungsvermerke und die ausdrücklich erwähnte polizeiliche Auflistung einzelner Fälle weitere tatsächliche Angaben über den Inhalt der Tatvorwürfe und die zu suchenden Beweismittel enthalten, führen – so das BVerfG – die unbestimmten, den Anwendungsbereich der Durchsuchungsanordnung unkontrollierbar erweiternden Formulierungen des Beschlusses zu einer mangelnden Begrenzung derselben. Das AG habe es versäumt, durch eine geeignete Formulierung im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren für eine zumindest annäherungsweise Beschreibung der Tatvorwürfe gegenüber dem Beschuldigten und der dafür zu suchenden Beweismittel zu sorgen und damit den äußeren Rahmen, innerhalb dessen die Durchsuchung durchzuführen sei, abzustecken. Letztlich habe es im Ermessen der beauftragten Beamten gelegen, nach weiteren, nicht ausreichend bestimmten Beweismitteln zu suchen. Dies sei angesichts der aus Art. 13 Abs. 2 GG folgenden Verpflichtung, die Durchführung der Maßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten, von Verfassungs wegen nicht mehr hinnehmbar.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Das BVerfG ist, was die Anordnung von Durchsuchungen angeht, verhältnismäßig streng (vgl. dazu auch BVerfG StRR 11/2020 , 14 und 16). Da müssen sich die Amtsgerichte schon ein wenig mehr Mühe machen, als sie es häufig tun, und die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat möglichst konkret beschreiben (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 1593 ff. m.w.N.). Dazu gehören dann auch Tatort und vor allem Tatzeit. Gerade an konkreten zeitlichen Angaben hat es hier aber wohl gefehlt. Im Beschluss, nicht in der Ermittlungsakte, wie man den Ausführungen des BVerfG entnehmen kann.
2. Das BVerfG hat die Verletzung der Grundrechte des Beschuldigten festgestellt und die landgerichtliche Beschwerdeentscheidung aufgehoben. Schön. Aber: Kann man sich als Beschuldigter über eine solche Entscheidung noch freuen, wenn das BVerfG mehr als fünf Jahre braucht, um die Verfassungswidrigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme festzustellen? Ich habe Verständnis für die Belastung des BVerfG. Aber Rechtsschutz bedeutet m.E. auch, dass zeitnah entschieden wird. Und fünf Jahre nach dem Vollzug einer Durchsuchungsmaßnahme ist nun wahrlich nicht mehr zeitnah.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg