Das Öffentlichkeitsprinzip wird durch aufgrund der Covid-19-Pandemie staatlich angeordnete Ausgangsbeschränkungen nicht verletzt, weil die Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen einen triftigen Grund zum Verlassen der häuslichen Unterkunft darstellt. (Leitsatz des Verfassers)
BGH, Beschl. v. 6.1.2021 – 5 StR 363/20
I. Sachverhalt
Der Angeklagte rügt erfolglos die die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 169 GVG, § 338 Nr. 6 StPO) durch angeordnete Ausgangsbeschränkungen während der Covid-19-Pandemie.
II. Entscheidung
Die aufgrund der Covid-19-Pandemie durch die Allgemeinverfügung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Vollzug des Infektionsschutzgesetzes vom 22.3.2020 angeordneten Ausgangsbeschränkungen stellten kein Verbot dar, als Zuhörer und damit als Teil der Saalöffentlichkeit an einer Hauptverhandlung teilzunehmen (ebenso BGH NStZ-RR 2021, 83). Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgrundsatz als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips gewährleiste, dass jedermann grundsätzlich die Möglichkeit hat, an Verhandlungen der Gerichte als Zuhörer teilzunehmen. Dadurch solle eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit – als historisch unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür – ermöglicht werden (BVerfGE 133, 168, 217 f. Rn 88).
Das LG habe die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens nicht verletzt. Nach Nr. 1 der sächsischen Allgemeinverfügung sei lediglich das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt. Welche Gründe triftig sind, zähle Nr. 2 auf, so in Nr. 2.9 die Wahrnehmung unaufschiebbarer Termine bei Behörden, Gerichten, Gerichtsvollziehern, Rechtsanwälten und Notaren. Durch die Formulierung „insbesondere“ werde klargestellt, dass es sich um keine abschließende Aufzählung handelt. Auch die Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen stelle einen triftigen Grund dar (BGH a.a.O.; zur fast wortgleichen bayerischen Regelung OLG München NJW 2020, 1381; a.A. Kulhanek, NJW 2020, 1183, 1184; Arnoldi, NStZ 2020, 313, 315). Dies sei damit in Einklang zu bringen, dass die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen der Allgemeinverfügung auf die Eindämmung des pandemischen Infektionsgeschehens gerichtet sind und einen Ausgleich zwischen dem Schutz vor der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und der Aufrechterhaltung elementarer Lebensbereiche suchen. Durch Nr. 2.9 der Allgemeinverfügung werde klargestellt, dass die Funktionstüchtigkeit der Justiz als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats aufrechterhalten bleiben soll. Auch das BVerfG habe im Zusammenhang mit der Gefährdungslage durch die Covid-19-Pandemie darauf hingewiesen, dass die Sicherung des Rechtsfriedens durch das Strafrecht in der Ausnahmesituation einer Pandemie weiterhin eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt bleibt (BVerfG NStZ-RR 2021, 19; ebenso SächsVerfGH NJW 2020, 1285, 1286). Dessen Aufrechterhaltung bedinge nicht nur die Teilnahme der unmittelbar am Gerichtsverfahren Beteiligten, sondern auch die Gewährleistung der Saalöffentlichkeit.
Selbst wenn Einzelne aufgrund der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen auf den Besuch einer Hauptverhandlung verzichtet haben sollten, läge keine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch das Tatgericht vor. Denn ein trotz eines nicht bestehenden Teilnahmeverbots vorgenommener Verzicht Einzelner würde in diesen Fällen auf Umständen beruhen, die nicht in den Verantwortungsbereich des Gerichts fielen (OLG München a.a.O: Arnoldi, NStZ 2020, 313, 316; offen gelassen BGH a.a.O.: zur Frage des Vertretenmüssens etwa BGH NStZ-RR 2016, 245). Bei einer von ihm nicht zu vertretenden Sachlage wäre das Tatgericht schließlich nicht verpflichtet, dem Öffentlichkeitsgrundsatz durch eine Unterbrechung oder eine Aussetzung noch weitergehende Wirkung zu verschaffen. Anders als im Einzelfall kurzfristiger Beschränkungen könne dies insbesondere dann nicht gelten, wenn die Dauer der möglichen Einschränkungen wie bei der aktuellen Pandemie nicht absehbar ist. Denn die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasse in Ausnahmesituationen die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen (BVerfG a.a.O.; SächsVerfHG a.a.O.). Durch den – während des hier laufenden Strafverfahrens noch nicht geltenden – § 10 EGStPO solle ebenfalls nur eine Reduktion des Geschäftsbetriebs ermöglicht, aber keinesfalls ein Stillstand über möglicherweise Wochen oder Monate – in denen Angeklagte sich in Untersuchungshaft befänden, Taten verjährten etc. – herbeigeführt werden.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Covid-19-Pandemie ist eine hoffentlich einmalige Extremsituation für Gesellschaft und Strafrechtspflege (zur Auswirkung der Pandemie auf das Strafverfahren näher Deutscher, StRR 5/2020, 5). Der 5. Senat schließt sich der Bewertung des 4. Senats (NStZ-RR 2021, 83) zu der identische Allgemeinverfügung an. Das ist zu jedem Aspekt überzeugend (s. Deutscher a.a.O., 12 f.). Angesichts der überragenden Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes als Instrument zur Kontrolle der Gerichte in der Hauptverhandlung durch die Öffentlichkeit einerseits und der Notwendigkeit einer effektiven Strafrechtspflege andererseits würde ein anderes Ergebnis der Sache nach zu einem Stillstand der Verhandlungstätigkeit führen müssen. Dann würde sich aber auch die Frage stellen, ob solche Verordnungen oder Allgemeinverfügungen der Exekutive gegenüber der höherrangigen gesetzlichen Vorschrift des § 169 Abs. 1 S. 1 GVG und dem dahinterstehenden Rechtsstaatsprinzips überhaupt Wirkung entfalten können. Zwei Punkte sind allerdings zu beachten: Zum einen fehlt einem interessierten Zuschauer mangels Ladung anders als den Verfahrensbeteiligten ein Nachweis über den Gerichtsbesuch. Zum anderen gelten die Anforderungen an die zum Gesundheitsschutz erforderlichen gerichtlichen Maßnahmen (näher BVerfG a.a.O.) angesichts der Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips auch für Zuschauer.
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum