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Beweisantrag „ins Blaue“

Die von der Rechtsprechung des BGH zur früheren Rechtslage im Hinblick auf die Ablehnung eines „ins Blaue“ gestellten Beweisantrags aufgestellten strengen Anforderungen gelten auch für die Neuregelung des Rechts des Beweisantrags durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ vom 10.12.2019. (Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 16.3.2020 – 5 StR 35/21

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten wegen verschiedener Raub- und Körperverletzungstaten verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten. Mit ihr ist die Rüge einer Verletzung des Beweisantragsrechts wegen Zurückweisung eines auf Vernehmung eines Zeugen gerichteten Antrags erhoben worden.

Der Rüge lag zugrunde, dass der Verteidiger des Angeklagten am 19. von 22 Hauptverhandlungstagen der seit Dezember 2019 laufenden Hauptverhandlung beantragt hatte, den Zeugen G zum Beweis der Tatsache zu hören, dass der Angeklagte diesen am 23.10.2018 gegen 22 Uhr in H getroffen, sich kurz mit ihm unterhalten und ihm von einer Tankstelle eine Schachtel Zigaretten und Kekse bzw. Zwieback nebst Kassenbon mitgebracht habe. Der Zeuge G führe eine Art Kassenbuch bzw. sammele Kassenbons, weshalb er diesen Einkauf nachvollziehen könne. Ziel des Antrags war, den Angeklagten wegen dieses Alibis als Mittäter zweier Überfälle am 23.10.2018 gegen 22 Uhr in M und gegen 23 Uhr in N auszuschließen.

Das LG hat den Antrag abgelehnt. Es handele sich lediglich um einen nach Amtsermittlungsgrundsätzen zu behandelnden Beweisermittlungsantrag, weil die Beweistatsache „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ behauptet werde. Der Einkauf an einer Tankstelle sei belanglos und kaum markant. Eine Zuordnung zu einem konkreten Datum aus der Erinnerung sei nach fast zwei Jahren weder dem Angeklagten noch dem Zeugen möglich. Hätte der seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte eine nachvollziehbare Erinnerung an das nunmehr behauptete Alibi gehabt, wäre seine geständige Einlassung vom siebten Hauptverhandlungstag, die er am zehnten Hauptverhandlungstag widerrufen habe, nicht erklärbar, weil er dort nicht nur die Fahrten zu den einzelnen Tatorten, sondern auch Einzelheiten der jeweiligen Tatabläufe geschildert habe. Gegen eine – im Beweisantrag behauptete – reale Erinnerung des Angeklagten an das unter Beweis gestellte Geschehen sprächen auch das späte Vorbringen und der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme zu konkreten Alibibehauptungen bezüglich zweier anderer Tatzeitpunkte; die von ihm jeweils dazu benannten drei Zeugen hätten die Alibibehauptungen nicht bestätigen oder sich nicht erinnern können. Zur Erforschung der Wahrheit sei die Beweiserhebung von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht geboten.

II. Entscheidung

Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg. Die Begründung, mit der das LG den auf Beweiserhebung gerichteten Antrag als Beweisermittlungsantrag und nicht als Beweisantrag behandelt habe, stelle sich – so der BGH – im Ergebnis als zutreffend dar.

Der BGH bejaht allerdings – anders als der Generalbundesanwalt – das Erfordernis der Konnexität. Es ergebe sich schon aus dem Antrag selbst durch Schilderung der Wahrnehmungssituation, dass der Zeuge zu der unter Beweis gestellten Tatsache aufgrund eigenen Erlebens Angaben machen können soll (sogenannte „Konnexität“ zwischen Beweistatsache und Beweismittel; vgl. § 244 Abs. 3 S. 1 a.E. StPO; hierzu näher BGHSt 43, 321, 329 f.; BGH NStZ 2011, 169, 170; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 244 Rn 21a ff. m.w.N.). Die Wertung des LG, der Antrag sei nur „ins Blaue hinein“ und „aufs Geratewohl“, also nicht ernsthaft gestellt und deshalb kein Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 S. 1 StPO, erweise sich aber als rechtsfehlerfrei. Dazu führt der BGH aus:

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH stelle ein auf Beweiserhebung gerichteter Antrag keinen Beweisantrag im Rechtssinne dar, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung lediglich „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird, so dass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. u.a. aus der umfangreichen Rechtsprechung des BGH zuletzt NStZ 2009, 226; 2013, 536, 537; vgl. auch KG StV 2015, 103; NStZ 2015, 419; OLG Köln NStZ 2008, 584; OLG Bamberg NStZ 2018, 235). Trotz der von weiten Teilen der Literatur (vgl. nur LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn 109 ff.; KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 244 Rn 73; Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl., S. 84 f.; Schneider, NStZ 2012, 169, 170) und auch Teilen der Rechtsprechung (vgl. BGH StV 2008, 9; StraFo 2010, 466; NStZ 2011, 169, 170) an dieser Rechtsfigur bereits zuvor geübten gewichtigen Kritik und ungeachtet der während des Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Schneider, ZRP 2019, 126, 128 f.) und im Rahmen der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestages insoweit geäußerten Bedenken (vgl. Mosbacher, Stellungnahme S. 8) habe der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Beweisantragsrechts durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2121) ausdrücklich an der bisherigen Rechtsauffassung festhalten wollen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 34). Seinen objektiven Ausdruck habe dieser gesetzgeberische Wille in dem Definitionsmerkmal „ernsthaft“ in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO gefunden (vgl. BGH NStZ-RR 2021, 57; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn 21d). Diese ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung (vgl. aber auch Claus, NStZ 2020, 57, 60; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381) sei ungeachtet des Umstandes hinzunehmen, dass sich dadurch ein systematisch schwer auflösbarer Widerspruch zur Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2 StPO ergebe (näher Güntge, StraFo 2021, 92, 98; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381 f.; zur Problematik auch Börner, NStZ 2020, 460; Claus, a.a.O., S. 60; vgl. bereits BGH StV 2008, 9).

Weil sich weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung ergibt, dass der Gesetzgeber die bisher von der Rechtsprechung gestellten strengen Anforderungen in diesen Fällen ändern wollte, gelten diese – so der BGH – wie zuvor. Die Frage, ob ein „aufs Geratewohl“ gestellter Antrag vorliegt, beurteile sich danach aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen (BGH NStZ 2013, 476 m.w.N.). Es komme dagegen nicht darauf an, ob das Tatgericht eine beantragte Beweiserhebung für erforderlich halte (vgl. BGH NStZ 2013, 536, 537 m.w.N.). Es sei dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren Richtigkeit er lediglich vermute oder für möglich halte (vgl. BGH, jeweils a.a.O. m.w.N.). Nicht ausreichend für die Einordnung als Beweisermittlungsantrag sei zudem, dass die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben habe oder dass die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheine oder eine andere Möglichkeit nähergelegen hätte (BGH, Beschl. v. 4.12.2012 – 4 StR 372/12 m.w.N.). Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag (vgl. BGH NStZ 1993, 143, 144 m.w.N.) regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den notwendig starken Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerate (näher Schäuble, NStZ 2020, 377, 381), sei bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit – wie die bisherige Rechtsprechung zeigt – äußerste Zurückhaltung geboten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 244 Rn 21e). Die Ablehnung eines Beweisantrags als „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ gestellt werde demnach nur ausnahmsweise in Betracht kommen und erfordert einen hohen argumentativen Aufwand des Tatrichters, der nicht durch die bloße Behauptung, er sei davon überzeugt, dass die Beweisbehauptung aus der Luft gegriffen sei, ersetzt werden kann (BGH NStZ 2004, 51). Auf der Grundlage hat der BGH den gestellten Beweisantrag als „ins Blaue hinein“ gestellt angesehen.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Bei der Entscheidung handelt es sich um eine der ersten Entscheidungen des BGH, die sich mit dem neuen Beweisantragsrecht befassen (dazu Burhoff, StRR 10/2020, 5 ff.).

2. Der Verteidiger muss Folgendes im Blick haben: Ob es dem Antrag an der notwendigen Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens mangelt, lässt sich regelmäßig nur aus einer Gesamtschau aller insoweit relevanten Faktoren ableiten. Darauf weist der BGH in seiner Entscheidung ausdrücklich hin. Dabei können der Inhalt des Beweisbegehrens, die bisherige Beweissituation und das bisherige Prozessverhalten des Antragstellers berücksichtigt werden. Ein tragfähiges Indiz für den Mangel an Ernsthaftigkeit kann etwa sein, dass eine Mehrzahl neutraler Zeugen eine Tatsache übereinstimmend bekundet hat und ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte das Gegenteil in das Wissen eines weiteren, völlig neu benannten Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit offensichtlichen Zweifeln begegnet (vgl. BGH NJW 1997, 2762, 2764; NStZ 2002, 383). Erforderlich ist, dass sich die Bestätigung der Beweisbehauptung nach dem Verlauf der bereits durchgeführten Beweisaufnahme als offensichtlich unwahrscheinlich darstellt (BGH NStZ 2013, 476, 478).

3. Die Ablehnung mangels Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens bedarf einer begründeten Entscheidung durch den Vorsitzenden oder das Gericht, aus der sich die hierfür wesentlichen Gründe in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Form ergeben. Zudem kann es erforderlich sein, den Antragsteller zuvor zu seinen Wissensquellen oder den Gründen seiner Vermutung zu befragen (vgl. BGH StV 1985, 311; KG NStZ 2015, 419, 421; OLG Köln NStZ 2008, 584; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 244 Rn 21g). Letzteres muss der Verteidiger ebenfalls im Blick haben und ggf. seine Verfahrensrüge auch darauf stützen, dass nicht nach der Wissensquelle gefragt worden ist.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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