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Akteneinsicht für Verletzten; rechtliches Gehör; Beschwerde

1. Vor der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten ist der Beschuldigte regelmäßig anzuhören.

2. Hat der Verletzte tatsächlich Einsicht in die Akten genommen, ist die vorangegangene richterliche Anordnung der Akteneinsicht prozessual überholt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten ist daher grundsätzlich unzulässig.

3. Der Verstoß gegen das Recht des Beschuldigten auf rechtliches Gehör begründet für sich alleine die Zulässigkeit der Beschwerde nicht. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn ein anerkannter Ausnahmefall (Wiederholungsgefahr, fortwirkende Beeinträchtigung, tiefgreifender Grundrechtseingriff) vorliegt. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 18.1.2021 – 1 Ws 4/21

I. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde vom AG wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt und legte hiergegen Rechtsmittel ein. Noch vor Eingang der Rechtsmittelschrift hatte ein Rechtsanwalt die Vertretung des Verletzten und seine Beauftragung mit der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche angezeigt und Akteneinsicht beantragt. Diese wurde durch den Vorsitzenden der zuständigen Berufungskammer bewilligt, ohne zuvor den Angeklagten anzuhören.

Hiergegen legte der Angeklagte mit in der Berufungsverhandlung übergebenem Schriftsatz seines Verteidigers Beschwerde ein. Die AE hätte im Hinblick auf die „Interessen des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung“ und wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt werden müssen. Jedenfalls wäre der Angeklagte vor der Gewährung anzuhören gewesen.

Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig verworfen.

II. Entscheidung

Die Beschwerde sei, so der Senat, unzulässig. Bereits bei der Einlegung des Rechtsmittels habe es, da die AE im Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde bereits gewährt worden war, an einer gegenwärtigen, fortdauernden Beschwer des Angeklagten gefehlt.

1. Nach Auffassung des OLG liegt überdies auch kein Ausnahmefall vor, in dem trotz der prozessualen Überholung ein Rechtsschutzbedürfnis anzuerkennen wäre. Weder bestehe Wiederholungsgefahr, noch sei eine fortwirkende Beeinträchtigung oder ein Fall objektiver Willkür gegeben. Auch das Gebot effektiven Rechtsschutzes begründe eine Zulässigkeit der Beschwerde nicht. Die Gewährung von AE an einen Rechtsanwalt, der von dem durch eine Straftat Verletzten bevollmächtigt wurde, stelle ungeachtet ihres Bezuges zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Angeklagten nicht ohne Weiteres einen Grundrechtseingriff dar, der aus sich heraus unabhängig von den Umständen des Einzelfalls eine mit Eingriffen in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in die körperliche Unversehrtheit oder in die persönliche Freiheit des Betroffenen vergleichbare Intensität aufweise. Die Akte enthalte keinen besonders geheimhaltungsbedürftigen, insbesondere die Privatsphäre oder gar die Intimsphäre des Angeklagten berührenden Inhalt.

2. Zwar erfordere die Gewährung von AE an Dritte, auch an den Verletzten, regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers. Der in der vorliegend unterbliebenen Anhörung liegende Verfahrensfehler führe jedoch für sich allein noch nicht zur Zulässigkeit trotz prozessualer Überholung. Dies wäre vielmehr nur dann der Fall, wenn der Verstoß sowie die anschließend erfolgte tatsächliche Gewährung der AE dazu geführt hätten, dass diese sich als schwerwiegender Grundrechtseingriff darstelle. Daran fehle es hier.

3. Überdies sei die Gewährung der AE in der Sache rechtmäßig gewesen. Das hierfür erforderliche berechtigte Interesse des Verletzten sei gegeben. Ein solches liege insbesondere dann vor, wenn die AE der Prüfung dienen soll, ob und in welchem Umfang zivilrechtliche Ansprüche gegen den Beschuldigten geltend gemacht werden können.

Zudem habe ein Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 StPO nicht vorgelegen. Allein die bei Aktenkenntnis des Verletzten stets begründete Gefahr einer anhand des Akteninhalts präparierten Zeugenaussage reiche für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht aus.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung des OLG ist nachvollziehbar. Ein besonderes schutzwürdiges Interesse des Angeklagten an einer Versagung der AE, wie es beispielsweise gegeben sein kann, wenn die Akte ein medizinisches oder psychiatrisches Sachverständigengutachten enthält, ist nicht ersichtlich. Hiervon ausgehend leuchtet ein, dass der Senat den Eingriff geringer gewichtet hat als etwa eine Durchsuchung oder einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (vgl. hierzu auch BVerfG NJW 2017, 1164).

Darüber hinaus geht der Senat auch zutreffend davon aus, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der AE nach § 406 Abs. 1 StPO gegeben waren und dass überwiegende schutzwürdige Interessen des Angeklagten nicht entgegenstanden. Die theoretische Gefahr, eine Zeugenaussage könne anhand des Akteninhalts präpariert werden, genügt für die Versagung der AE nach richtiger Auffassung nicht (so auch KG NStZ 2019, 110; a.A. für Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen OLG Hamburg NStZ 2015, 105). Der BGH vertritt sogar die Ansicht, dass der Tatrichter den Umstand, dass ein Nebenkläger vor seiner Aussage in der Hauptverhandlung vermittelt durch einen Rechtsanwalt Kenntnis vom Akteninhalt erlangt hat, im Zuge seiner Beweiswürdigung grundsätzlich nicht aufgreifen muss, sofern nicht Hinweise auf eine konkrete Falschaussagemotivation des Zeugen oder Besonderheiten in seiner Aussage hierzu Anlass geben (BGH NStZ 2016, 367). Derartiges war vorliegend nicht gegeben und es lag auch keine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor. Mithin bestand kein Grund für eine Versagung der AE.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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