Alter und Wohndauer als nicht zu rechtfertigende Härtegründe nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB
BGH, Urt. v. 3.2.2021 – VIII ZR 68/19
I. Der Fall
Die Parteien streiten um die Räumung von Wohnraum. Die 1932 geborene Beklagte mietete zusammen mit ihrem im Laufe des Rechtsstreits verstorbenen Ehemann 1997 eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin an. Die seit 17.7.2015 als Eigentümerin eingetragene Klägerin erklärte mit Schreiben vom 3.8.2015 die ordentliche Kündigung wegen Eigenbedarfs, da sie nicht mehr mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern in ihrer eigenen Wohnung leben wolle. Die Klage blieb in den Tatsacheninstanzen ohne Erfolg, wobei das Berufungsgericht insbesondere davon ausging, dass bereits das hohe Alter der Mieterin die Annahme einer nicht zu rechtfertigenden Härte begründe. Hiergegen richtet sich die vom BGH zugelassene Revision.
II. Die Entscheidung
Das Rechtsmittel hatte Erfolg.
Die Annahme einer nicht zu rechtfertigenden Härte nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB setzt Beeinträchtigungen voraus, die über die mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich hinausgehen. Das hohe Lebensalter kann in Verbindung mit weiteren Umständen hierzu gehören, begründet aber nicht alleine schon eine Härte nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB. Hinzutreten müssen z. B. gesundheitliche Umstände, die etwa einen Umzug nicht oder nur unter Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des Mieters erlauben. Entsprechendes gilt für eine lange Wohndauer. Sie begründet ebenfalls nicht schon für sich eine Härte nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB, sondern nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, etwa einer tiefen sozialen Verwurzelung. Dies setzt Feststellungen etwa zu den sozialen Kontakten, zum Einkaufsverhalten oder zu kulturellen, sportlichen und religiösen Aktivitäten in Wohnungsnähe voraus. Aufgrund dieser Fehler bei der Feststellung der Härte ist auch die in § 574 Abs. 1 S. 1 BGB geforderte Interessenabwägung fehlerhaft. Die Annahme, das hohe Alter eines Mieters gebiete auch unter Berücksichtigung der Vermieterinteressen eine Fortsetzung des Mietverhältnisses, läuft auf eine unzulässige Kategorisierung hinaus. Da die Sache noch nicht entscheidungsreif ist, muss das Berufungsgericht insbesondere zur gesundheitlichen Situation der Beklagten die angebotenen Beweise erheben. Vom Mieter eingereichte Atteste reichen zur Feststellung bestrittener Gesundheitsbeeinträchtigungen im Rahmen des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB in der Regel nicht. Ebenso wenig genügt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes die Berliner Mietenbegrenzungsverordnung für die Feststellung, angemessener Wohnraum sei zu zumutbaren Bedingungen nicht zu erlangen.
III. Der Praxistipp
Die Feststellung von Härtegründen nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB wird nach dieser Entscheidung regelmäßig einigen Aufwand erfordern. Denn die mieterseits vorgetragenen Umstände sind für den Vermieter regelmäßig nicht Gegenstand seiner Wahrnehmung, so dass er mit Nichtwissen bestreiten kann. In der Folge wird jedenfalls bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen Sachverständigenbeweis zu erheben sein.