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Es war ein langer Weg von den ersten zarten Pflänzchen einer elektronischen Kommunikation in der Justiz bis zum heutigen (immer noch nicht flächendeckenden) elektronischen Rechtsverkehr, und es wird noch ein langer Weg sein bis zur Vollendung einer Umsetzung in Justiz, Anwaltschaft und öffentlicher Verwaltung, die alle Möglichkeiten der IT vollständig nutzt und nicht auf der Stufe einer reinen elektronischen Kommunikation bei unveränderten Arbeitsabläufen stehen geblieben ist.
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Die Corona-Krise mit ihrem von außen gekommenen Zwang zum mobilen, dezentralen Arbeiten im Homeoffice unter Einsatz von Videokonferenzen usw. hat allerdings einen längst notwendigen Schub gebracht.
Der Satz „Not macht erfinderisch“ ist in jeder Hinsicht zutreffend; es hat sich auch hier wieder gezeigt, welche kreativen Lösungen möglich sind, wenn eine Krise dazu zwingt, die gewohnten Denkmuster zu verlassen und auch die üblichen Abwehr- und Verhinderungsstrategien beiseite zu schieben.
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Wer in seinem Home Office in der Lage war, seine Arbeit anhand von elektronischen Akten weiter bearbeiten zu können und so einen Stillstand seiner individuellen Arbeitswelt zumindest teilweise abwenden konnte, wird von den Vorteilen einer elektronischen Akte restlos überzeugt sein, auch wenn nicht zu bezweifeln ist, dass an den einzelnen Aktenbearbeitungsprogrammen immer noch Verbesserungen möglich sein werden.
Denn auch hier bleibt die technische Entwicklung nicht stehen und eröffnet vielleicht ganz neue Potentiale, von denen wir heute noch gar keine Vorstellung haben.
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Die Krise hat auch gezeigt, dass die erforderliche Kommunikation mittels Videos über das Internet technisch realisierbar ist und auch in manchen gerichtlichen Verfahren eingesetzt werden könnte, und zwar ohne technische Einschränkungen auch direkt vom Homeoffice aus.
Nach Presseberichten wird in der Gerichtspraxis vermehrt von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht.
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So meldet das OLG Celle, dass die Gerichte im dortigen Bezirk Celle vermehrt Verhandlungen in Zivil- und Familiensachen per Videokonferenz durchführen. Die Videokonferenz werde mit einer Software geführt, die nicht auf den Computern der Verfahrensbeteiligten installiert sein müsse. Einzelheiten dazu erhalten die Verfahrensbeteiligten mit der Ladung des Gerichts zu der Videoverhandlung. Die IT-Geräte der an der Videokonferenz Beteiligten müssten allerdings über eine Kamera, einen Lautsprecher oder ein Headset und ein Mikrofon verfügen. Bei öffentlichen Verhandlungen genüge es, wenn die Zuhörer der Tonübertragung im Sitzungssaal folgen könnten. Das LG Hannover hat – so die Meldung – bereits mehr als 50 Zivilsachen per Videokonferenz verhandelt und dabei gute Erfahrungen gemacht.
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Nach einer weiteren Pressemeldung will der Freistaat Bayern zumindest für die Dauer der Corona-Pandemie die Möglichkeiten des Video-Einsatzes in Gerichtssälen ausweiten. 50 Videokonferenzanlagen stehen in bayerischen Gerichten bereits zur Verfügung, sie könnten von 53 Gerichten genutzt werden. Acht weitere Anlagen seien bereits erworben worden. Ziel sei eine flächendeckende Ausstattung. Zudem solle im Rahmen eines Pilotprojekts das Programm „Microsoft Teams“ in zivilgerichtlichen Verhandlungen erprobt werden.
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Inzwischen ist in Deutschland eine lebhafte Diskussion darüber in Gang gekommen, ob und wie diese modernen Wege einer Online-Anhörung und einer gerichtlichen Verhandlung mittels Videos weiter ausgebaut werden sollen.
Bemerkenswert ist, dass die einschlägige Norm des § 128a ZPO bereits am 1.1.2002 eingeführt worden ist, seitdem aber lediglich ungeliebt und kaum genutzt im Arsenal der Verfahrensmöglichkeiten ein Schattendasein geführt hat, obwohl damit auch schon vor Corona die Möglichkeit bestanden hätte, eine nutzerfreundlichere Justiz ohne lange Anreisen für kurze Verhandlungen zu starten.
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International ist der Einsatz der Video-Technik schon deutlich weiter fortgeschritten – und es ist geradezu beschämend, wie weit Deutschland bei der Digitalisierung zurückliegt.
Videoverhandlungen finden auch vom heimischen Schreibtisch statt: „ Rechtsprechung auf Abstand “ in Corona-Zeiten. Eindrucksvoll ist der Katalog der Länder, die erfolgreich Videokonferenztechnik nutzen, um die Gerichte nicht zum Stillstand kommen zu lassen: Auf der Website https://remotecourts.org/ finden sich zahlreiche Berichte aus aller Welt. Die Website wird von der Society for Computers and the Law und der staatlichen IT-Stelle für die Gerichte in England und Wales betrieben.
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Leider zeigt sich dieses Bild der Rückständigkeit auch an anderer Stelle. Während man bei uns in Deutschland einen handfesten Pflegenotstand in Krankenhäusern und Altenheimen beklagt, kommt die Pressemeldung über den Einsatz von Robotern, die in Krankenhäusern in Ruanda helfen – einem Land, dem man üblicherweise das Etikett „Entwicklungsland“ anheftet (https://www.tagesschau.de/ausland/roboter-ruanda-101.html).
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Der EDV-Gerichtstag hat am 9.6.2020 von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr unter dem Titel „ Virtuelle Verhandlungen vor Gericht: Erfahrungen – Herausforderungen – Zukunft “ eine erste virtuelle Konferenz durchgeführt, um den aktuellen Stand zu erheben und auch die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen anzusprechen. Angefangen von der richtigen Technik über die Einhaltung des Datenschutzes bis hin zur Frage des Herstellens der Gerichtsöffentlichkeit und anderer Verfahrensgrundsätze gibt es hier eine Menge zu diskutieren, wobei möglicherweise auch Impulse für die aktuellen Gesetzgebungsvorhaben und die Weiterentwicklung der bestehenden Regelungen zu geben sind. Diese Aktivitäten wird der EDV-Gerichtstag fortsetzen.
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Nach den bisher bekannt gewordenen Erfahrungen aus der Praxis ist hier einmal die Justizverwaltung vor die Aufgabe gestellt, die notwendige, aber vielfach noch fehlende IT-Ausstattung zügig zu beschaffen. So fordert der Deutsche Richterbund als Konsequenz aus der Corona-Krise und den dadurch ausgelösten starken Einschränkungen der Arbeit in der Justiz einen Investitionsschub in Gerichten und Staatsanwaltschaften und mehr Tempo bei der Digitalisierung der Justiz.
Beklagt wird vielfach, dass die Ausnahmesituation der Pandemie viele Lücken in der IT-Ausstattung der Gerichte offengelegt habe.
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Auch die Anwaltschaft wirft zu Recht die Frage auf, wie Zivilprozesse wieder zum Laufen gebracht werden können, ohne Infektionsrisiken zu schaffen und plädiert für eine Ausweitung dieser Möglichkeiten – nachzulesen z.B. in einem Beitrag im Anwaltsblatt mit dem markanten Titel „ Die Coronakrise und der digitale Zivilprozess – Wie die Videokonferenz den Zivilprozess überleben lässt “.
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Aber auch der Gesetzgeber ist dringend gefordert, die verfahrensrechtlichen Vorschriften unter Berücksichtigung dieser zeitgemäßen technischen Möglichkeiten und der gewonnenen praktischen Erfahrungen sehr schnell einer kritischen Durchsicht zu unterziehen und – soweit notwendig und möglich – offener und flexibler zu gestalten.
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Und hier wird Bewegung erkennbar. In ihrer, im Mai 2020 – diesmal per Video durchgeführten – Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister stand das Thema der Digitalisierung bei der Bewältigung der Pandemie ganz oben auf der Agenda.
„Angefangen von der Möglichkeit, zur Kontaktvermeidung im Homeoffice zu arbeiten, über die laufende Umstellung auf die E-Akte bis hin zu ‚Online-Verhandlungen‘ bietet die Digitalisierung Möglichkeiten, die Arbeit der Justiz insbesondere auch auf die neuen Herausforderungen durch den Infektionsschutz umzustellen.”
So die Vorsitzende der Konferenz, Bremens JustizsenatorinClaudia Schilling.
Gemeinsam will man insbesondere die Voraussetzungen für einen weiteren Ausbau der Digitalisierung samt möglicher, länderübergreifender Schnittstellen prüfen:
Angefangen mit der flächendeckenden Ausstattung der Justiz mit Videokonferenztechnik über den generellen Ausbau der IT-Infrastruktur bis hin zum Ausbau von Online-Fortbildungsangeboten für die Justiz-Beschäftigten.
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Damit hat die Corona-Krise auch den Boden bereitet, um den elektronischen Rechtsverkehr und die elektronische Akte weiter voranzutreiben.
Es bleibt zu hoffen, dass diesen Worten auch schnell und beherzt die notwendigen Taten folgen werden.
Dabei sollte man sehr schnell kreative Lösungen umsetzen, um die Gerichtsverfahren im Interesse der Beteiligten zeitnah bearbeiten und erledigen zu können. Wenn man sich statt dessen hier unnötig an verfahrensrechtlichen Restriktionen und den gewohnten Hemmnissen festbeißt, führt dies bei gleichbleibenden Eingängen und reduzierten Erledigungen in den Gerichten zu einem wenig bürgernahen Verfahrensstau, der die Justiz und natürlich auch die Anwaltschaft noch lange nach dem Ende der Corona-Krise belasten wird.
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Bemerkenswert ist dazu auch eine Entwicklung in der öffentlichen Verwaltung. Auch hier hat die Corona-Krise die Notwendigkeit und Nützlichkeit einer digitalen Verwaltung sehr deutlich gemacht.
Darauf hat das Bundesinnenministerium jetzt durch Gründung einer neuen Abteilung für digitale Verwaltung reagiert, in der 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nun von einer Stelle aus um die Modernisierung und Digitalisierung der Verwaltung kümmern sollen.
“Es ist höchste Zeit, die Digitalisierung entscheidend voranzubringen. Das hat auch die Corona-Pandemie deutlich gezeigt“,
so der Bundesinnenminister. Er verwies darauf, dass krisenrelevante Leistungen wie der Notfall-Kinderzuschlag oder Entschädigungszahlungen für Arbeitgeber in den letzten Wochen im Eilverfahren entwickelt und online gestellt worden seien.
Das zeigt, dass es auch mal schnell gehen kann, wenn es sein muss – und es muss jetzt sein!
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Im vom Bundesrat am 15.5.2020 beschlossenen Sozialschutz-Paket II sind z.B. auch Neuregelungen zum Verfahren der Arbeits- und Sozialgerichte enthalten. Sie sollen befristet pandemiefest gemacht werden, indem anstelle der Teilnahme an der Verhandlung Video- und Telefonkonferenzen zugelassen werden.
Auch ehrenamtliche Richter können sich in Zeiten einer Pandemie per Video zuschalten, wenn ihnen ein persönliches Erscheinen unzumutbar ist.
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In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die kritische Frage, warum diese zeitgemäßen Verfahrenserleichterungen nicht für alle Gerichtsverfahren eingeführt worden sind und warum all die diskutierten Vorschläge nur für die Dauer der Pandemie gelten sollen!
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Wir sollten gemeinsam die Pandemie als Chance nutzen, mit Hilfe der modernen Technik neue Wege zu beschreiten, unsere Aufgaben sachgerecht zu erledigen. Dies sollte aber nicht nur temporär für die Zeit der Krise gelten, um danach wieder in den „alten Trott“ zu verfallen.
Die Forderung ist, auch außerhalb der Krise noch stärker von den Vorteilen der Digitalisierung zu profitieren und nicht schon in den Reformen bereits einen deutlichen Rückschritt für die Zukunft einbauen!
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- Was bietet die aktuelle Ausgabe der e-Broschüre?
Natürlich wieder praxisrelevante Informationen zu beA aus erster Hand. Brandaktuell berichtetIlona Cosacküber das jetzt eingerichtete neue Service-Portal und die Neuerungen beim Support.
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Zum beA ist noch auf eine beachtenswerte Entscheidung des Anwaltsgerichtshofes Nürnberg (v. 6.3.2020 – AnwG 1–13/19) hinzuweisen.
Während die Nichtaktivierung des beA bislang nur unter dem Blickwinkel eines möglichen Haftungsrisikos betrachtet wurde, rückt jetzt auch die Möglichkeit in den Focus, berufsrechtlich gegen diejenigen vorzugehen, die ihr beA-Postfach noch nicht freigeschaltet haben.
Der Anwaltsgerichtshof Nürnberg hat in dieser Entscheidung festgestellt, dass Anwältinnen und Anwälte ohne empfangsbereit eingerichtetes beA einen Berufsrechtsverstoß begehen, der im konkreten Fall nicht nur mit einem Verweis, sondern auch mit einer Geldbuße von 3.000 EUR geahndet worden ist.
Anwältinnen und Anwälte, die ihr beA immer noch nicht aktiviert haben, sollten sich schleunigst um die Erstregistrierung kümmern!
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Isabelle Biallaßinformiert Sie weiter darüber, was sich hinter dem geheimnisvollen Begriff der KI („künstlichen Intelligenz“) verbirgt. Konkret berichtet sie über den am 17.1.2020 vom EDV-Gerichtstag veranstalteten zweiten Workshop über die Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der Justiz.
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VonIsabelle Biallaßstammt auch die kurze Besprechung einer Entscheidung des BGH zur Frage, ob der Anwalt bei technischen Problemen mit seinem Faxgerät kurz vor Fristablauf einen Übermittlungsversuch über das besondere elektronische Anwaltspostfach unternehmen muss.
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Es folgt ein kurzer Blick über die Grenze auf das digitale Verfahrensmanagement in Österreich.
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Den Abschluss dieser Ausgabe bildet die Information über den diesjährigen EDV-Gerichtstag und meine dringende Warnung vor dem Einsatz des Computerfaxes angesichts des verstärkten Einsatzes der e-Akte in den Gerichten.
Wir wünschen Ihnen eine angenehme und nutzbringende Lektüre unserer e-Broschüre.
Dr. Wolfram Viefhues
Herausgeber