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BAG: Benachteiligung von Teilzeitarbeitskräften durch unzulässige tarifvertragliche Überstundenregelung

1. Eine tarifvertragliche Regelung, die für das Verdienen von Überstundenzuschlägen auch bei Teilzeitarbeit das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmers voraussetzt, behandelt in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeit schlechter als vergleichbare Vollzeitarbeitnehmer. Sie verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung von in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmern nach § 4 Abs. 1 TzBfG, wenn es an sachlichen Gründen für die Ungleichbehandlung fehlt.

2. Liegen sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung nicht vor, bewirkt eine solche tarifvertragliche Regelung zugleich eine gegen § 7 Abs. 1 AGG verstoßende mittelbare Benachteiligung weiblicher Arbeitnehmer wegen des Geschlechts, wenn innerhalb der Gruppe der in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer signifikant mehr Frauen als Männer vertreten sind.

[Amtliche Leitsätze]

BAG, Urt. v. 5.12.20248 AZR 370/20

I. Der Fall

Schadensersatz nach § 15 Abs. 2 AGG und Gutschrift auf Arbeitszeitkonto

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf eine Entschädigung in Höhe eines Vierteljahresverdienstes gemäß § 15 Abs. 2 AGG. Zusätzlich verlangt die Klägerin die Gutschrift von 38 Stunden und 49 Minuten auf ihr Arbeitszeitkonto.

Überstundenregelung im Manteltarifvertrag

Die Klägerin ist bei der Beklagten, einem ambulanten Dialyseanbieter, als Pflegekraft in Teilzeit tätig. Bei der Beklagten sind mehr als 5.000 Mitarbeiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet ein zwischen der Beklagten und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossener Manteltarifvertrag Anwendung. In diesem Tarifvertrag ist in § 10 Nr. 7 S. 2 MTV festgelegt, dass Überstunden mit einem Zuschlag von 30 % vergütet werden. Überstunden werden dabei als Arbeitsstunden definiert, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Mitarbeiters hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeit ausgeglichen werden können. Als Alternative kann eine entsprechende Zeitgutschrift erfolgen.

unzulässige Benachteiligung

Die Klägerin sah in der Regelung des § 10 Nr. 7 S. 2 MTV eine unzulässige Benachteiligung im Vergleich zu Vollzeitarbeitnehmern. Sie argumentierte, dass sie zudem aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt werde, da die überwiegende Mehrheit der Teilzeitkräfte bei der Beklagten aus Frauen bestehe.

Verfahrensgang

Das Arbeitsgericht (ArbG) Fulda wies die Klage als unzulässig ab (Urt. v. 17.1.2019 – 2 Ca 73/18). Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen sprach der Klägerin die Zeitgutschrift zu, wies jedoch die Entschädigung nach AGG ab (Urt. v. 19.12.2019 – 5 Sa 436/19). Der Senat des BAG legte das Verfahren dem EuGH vor, der die Vorlagefrage mit Urt. v. 29.7.2024 beantwortete (Urt. v. 29.7.2024 – C-184/22).

II. Die Entscheidung

Revision hat Erfolg

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) gab der Klägerin überwiegend Recht. Der Klägerin wurden sowohl die beantragte Zeitgutschrift in Höhe von 38 Stunden und 49 Minuten zugesprochen als auch eine Entschädigung in Höhe von 250 EUR.

Einfluss der EuGH-Entscheidung

Nachdem der EuGH entschieden hatte, dass eine nationale Regelung, hier in Form des § 10 Nr. 7 S. 2 MTV, gegen § 4 Nr. 1, 2 der Richtlinie über Teilzeitarbeit, Art. 157 AEUV und Art. 2 Abs. 1 lit. b sowie Art. 4 Abs. 1 der Gleichbehandlungs-Richtlinie verstößt, wenn Überstundenzuschläge nur für die Arbeitsstunden gezahlt werden, die über die regelmäßige Arbeitszeit von vergleichbaren Vollzeitkräften gehen, ohne Berücksichtigung der Teilzeitkräfte, gelangte das BAG zu dem Schluss, dass § 10 Nr. 7 S. 2 MTV gegen das Benachteiligungsverbot verstößt. Es fehle an einer anteiligen Anpassung der Regelung entsprechend der Teilzeitarbeitsquote. Dadurch entstehe eine Ungleichbehandlung, da der Schwellenwert für den Entstehungsanspruch nicht proportional zur Arbeitszeit von Teilzeitkräften angepasst werde.

kein sachlicher Grund für Ungleichbehandlung

Das BAG führte weiter aus, dass es keinen sachlichen Grund gebe, der die Ungleichbehandlung rechtfertigen könne.

mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts

Das BAG stellte weiterhin fest, dass eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vorliege, die der Klägerin einen Anspruch nach § 4 Abs. 1 TzBfG verschaffe. Es stellte auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts fest, was einen Verstoß gegen § 15 Abs. 2 AGG begründe. Dabei stützt sich das BAG auf das Argument der Klägerin, dass mehr als 90 % der Teilzeitbeschäftigten bei der Beklagten Frauen seien.

abschreckende Wirkung

Das BAG begründet die Höhe der Entschädigung von 250 EUR damit, dass dieser Betrag erforderlich und ausreichend sei, um den immateriellen Schaden auszugleichen, der durch die Geschlechterdiskriminierung entstanden sei, sowie um einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten und eine abschreckende Wirkung auf den Arbeitgeber auszuüben.

III. Der Praxistipp

Klarstellung

Das Bundesarbeitsgericht hat, der Rechtsprechung des EUGH folgend, diese in der Praxis recht relevante Frage nun klar entschieden. Sämtliche Regelungen, die eine vergleichbare Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten vorsehen, sind daher mit hoher Wahrscheinlichkeit als unwirksam einzuordnen und sollten daraufhin überprüft werden, ob es im Einzelfall einen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung gibt. Dies dürfte allerdings – sofern überhaupt vorstellbar – nur in besonderen Ausnahmefällen gegeben sein, bspw. wenn Teilzeitbeschäftigte an anderer Stelle einen kompensatorischen Ausgleich erhalten.

Handlungsbedarf

Arbeitgeber, die entsprechende Regelungen in ihren Betrieben anwenden, gleich auf welcher Rechtsgrundlage, sollten diese kritisch überprüfen. Die Beschäftigten müssten die Ansprüche individuell geltend machen und derzeit ist nicht abschätzbar, in welchem Umfang es hierzu kommt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sowohl die Tarifparteien als auch die Betriebsparteien entsprechende Regelungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen anpassen werden. Hierauf sollten Arbeitgeber sich vorbereiten.

Jan Schiller, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf, schiller@michelspmks.de

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