Der Sechste Senat beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Die hierin liegende entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urt. v. 22.11.2012 (2 AZR 371/11, BAGE 144, 47) erfordert die Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält.
[Amtliche Leitsätze]
I. Der Fall
Fehler im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens
Die dieser Urteilsbesprechung zugrunde liegenden Verfahren haben gemein, dass in sämtlichen Verfahren der Sechste Senat des BAG (unter anderem) über die Frage zu entscheiden hat, ob Fehler im Rahmen der Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 KSchG zu einer Unwirksamkeit der anschließenden ausgesprochenen Kündigung(en) führen. Dabei ist für das Verständnis der Verfahrensgänge entscheidend, dass sowohl der Zweite als auch der Sechste Senat bislang davon ausgingen, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot verstößt und die Kündigung daher gem. § 134 BGB unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt. Nicht Gegenstand der Verfahren waren Fehler im Konsultationsverfahren.
Verfahren bei Massenentlassungen
Gem. § 17 KSchG muss der Arbeitgeber im Fall einer anzeigenpflichtigen Massenentlassung, die beabsichtigte Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzeigen (sog. Anzeigeverfahren). Dieses einzuhaltende, im Einzelfall fehlerträchtige Verfahren führt in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten. Die Fehler, welche im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens entstehen können, sind dabei vielfältig.
mögliche Fehler
Im Rahmen des Verfahrens BAG, Beschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 155/21, lag beispielsweise der vom Kläger gerügte Fehler darin, dass die Arbeitgeberin es versäumt habe, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Betriebsratsunterrichtung im Rahmen des Konsultationsverfahrens gem. § 17 Abs. 2 KSchG zuzuleiten, vgl. § 17 Abs. 3 S. 1. KSchG. Im Verfahren das dem Beschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 121/21 – zugrunde lag, berief sich der Kläger hingegen darauf, dass die gegenüber der Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1 KSchG zu erstattende Massenentlassungsanzeige fehlerhafte Angaben enthalte und nicht den aktuellen Stand der Beratung mit der Arbeitnehmervertretung wiedergäbe. Die Arbeitgeberin im Verfahren BAG, Beschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22, unterließ es gar gänzlich, die gem. § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige zu erstatten.
II. Die Entscheidung
Divergenzanfrage
In allen Fällen setzte das BAG die Kündigungsschutzverfahren zunächst aus, um ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einzuleiten. Nachdem der EuGH mit Urt. v. 13.7.2023 – C 134/22 die vorgelegten Fragen des BAG dahingehend beantwortet hat, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der schriftlichen Mitteilungen an die Arbeitnehmervertreter zu übersenden, dem Arbeitnehmer keinen Individualschutz gewähre, also Fehler im Rahmen der Übermittlungspflicht nach unionsrechtlichem Verständnis nicht zwingend zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen müssten, hat sodann die sechste Kammer die Verfahren nochmals ausgesetzt und an den Zweiten Senat die folgende Divergenzanfrage gerichtet:
„Wird an der seit dem Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11 vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt?“
keine normierten Regelungen zur Unwirksamkeit
Der Sechste Senat des BAG begründet seine Entscheidung insbesondere damit, dass die Sanktion der Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB bei Fehler im Anzeigeverfahren nicht vom Gesetzgeber bestimmt sei. Weder die Massenentlassungsrichtlinie, noch § 17 KSchG sähen eine solche Rechtsfolge vor.
§ 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG habe keinen Verbotscharakter
Dabei erfülle § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG schon nicht die Anforderungen an ein Verbotsgesetz, da es an dem erforderlichen Verbotscharakter der Verpflichtung des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren fehle. Denn ein Gesetz habe nur dann Verbotscharakter, wenn es entweder den Inhalt von bestimmten Rechtsgeschäften oder deren Vornahme unter bestimmten, verbotswidrigen Umständen untersage. Ob dies der Fall sei, sei ausgehend vom Normzweck durch Auslegung zu ermitteln. Davon sei bei § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nicht auszugehen.
Anzeigeverfahren stellt administrative Verpflichtung dar
Ein Verbotscharakter sei § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG schon deshalb nicht zu entnehmen, da der Arbeitgeber im Anzeigeverfahren lediglich außerhalb des Arbeitsverhältnisses stehende administrativ-prozedurale Verpflichtungen erfülle. Das Anzeigeverfahren diene nicht mehr der Verhinderung der Kündigung, sondern es solle der Arbeitsverwaltung ermöglichen, auf die größere Anzahl von Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt entsprechend reagieren zu können. Denn die Arbeitsverwaltung könne weder noch solle sie den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers beeinflussen. Das Tätigwerden der Arbeitsverwaltung setze vielmehr einen bereits bestehenden Kündigungsentschluss voraus.
Zweck von § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG gebietet keine Nichtigkeit
Selbst wenn eine Einordnung von § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG als Verbotsgesetz möglich sei, fordere § 17 Abs. 1., Abs. 3 KSchG auch nach seinem Zweck nicht die Nichtigkeit der Kündigungen. Denn § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG wolle weder die Kündigungsmöglichkeit als solche noch die Entscheidung des Arbeitgebers, wie viele Arbeitnehmer entlassen werden, beeinflussen. Auch bezwecke § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nicht die Verhinderung von Kündigungen. Bei § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG handele es sich um eine Vorschrift mir reiner Ordnungsfunktion, die sozio-ökonomische Auswirkungen von Massenentlassungen mildern solle. Geboten sei daher eine arbeitsförderungsrechtliche (i. e. ordnungsrechtliche) Sanktionierung des Arbeitgebers. Die Unwirksamkeit der Kündigung hingegen als Sanktion, greife in unzulässiger Weise in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers ein.
unionsrechtskonforme Auslegung
Auch Unionsrecht verlange keine Nichtigkeitssanktion und rechtfertige diese auch nicht. Denn die Massenentlassungsrichtlinie sieht eine solche Rechtsfolge nicht vor, zudem würde sie auch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen, welcher von den Mitgliedstaaten bei der Festsetzung von Sanktionen bei Verstößen gegen Richtlinien zu beachten sei. Auch hier sei wiederum zu berücksichtigen, dass das Anzeigeverfahren nur dazu diene, die eintretenden sozial-ökonomischen Auswirkungen zu mildern und daher nur Sanktionen in Betracht kommen, die dem Arbeitsförderungsrecht zugeordnet werden können.
III. Der Praxistipp
Hoffnung auf baldige Klarstellung
Sollte es tatsächlich zu einer Rechtsprechungsänderung des BAG kommen, würde dies die Risiken für Arbeitgeber, im Rahmen von Massenentlassungsverfahren unwirksame Kündigungen auszusprechen deutlich mildern, was zu begrüßen wäre. Die Nichtigkeitssanktion steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Anzeigepflicht.
Fehler im Konsultationsverfahren sollen weiterhin zur Nichtigkeit führen
Zu beachten ist jedoch, dass Fehler im Rahmen des Konsultationsverfahrens, nach Auffassung des sechsten Senats des BAG, weiterhin zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen sollen. Denn anders als im Anzeigeverfahren soll der Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahren dem Arbeitgeber konstruktive Vorschläge unterbreiten, die dazu führen, dass Massenentlassungen verhindert oder beschränkt werden. Der Betriebsrat kann und soll – anders als die Agentur für Arbeit – auf die Willensbildung des Arbeitgebers einwirken. Das Konsultationsverfahren habe daher – anders als das Anzeigeverfahren – individualschützende Wirkung.
Sophie Esser, Rechtsanwältin, Köln, esser@michelspmks.de