Ein in AGB vereinbarter vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt ist nur dann wirksam, wenn er ausdrücklich darauf hinweist, dass spätere Individualabreden über vertraglich nicht geregelte Gegenstände oder über Sonderzuwendungen nicht vom Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst werden.
[Redaktioneller Leitsatz]
LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 10.1.2022 – 9 Sa 66/21
I. Der Fall
Die Parteien streiten über Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Arbeitgeberin hat in den Jahren 2015 bis 2019 jeweils im Juni ein Urlaubsgeld und im November ein Weihnachtsgeld in unterschiedlicher Höhe erhalten. Ein gesonderter Vorbehalt bei der Zahlung erfolgte nicht.
Im vorformulierten Arbeitsvertrag ist die folgende Klausel enthalten: „Die Zahlung von Sonderzuwendungen, insbesondere von Weihnachts- und/oder Urlaubsgeld, liegt im freien Ermessen des Arbeitgebers und begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft, auch wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt.“
Der Kläger begehrt die Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld für das Kalenderjahr 2020 in Höhe der zuletzt gewährten Zahlungen. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab (ArbG Villingen-Schwenningen, Urt. v. 23.9.2021 – 1 Ca 234/21).
II. Die Entscheidung
Die Berufung des Arbeitnehmers war erfolgreich. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Urlaubs- und Weihnachtsgeld in der geltend gemachten Höhe zu.
Nach Auffassung des Gerichts könne dahinstehen, ob die Voraussetzungen für das Entstehen einer betrieblichen Übung vorlägen. Selbst dann, wenn mangels kollektivem Bezug keine betriebliche Übung entstanden sei, sei von einer „individuellen Übung“ in Form einer konkludenten Vertragsänderung auszugehen. Diese habe zum Inhalt, dass sich die Beklagte verpflichtet habe, dem Kläger jährlich ein Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu zahlen. Aufgrund der schwankenden Zahlungen bestehe zwar kein Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld in einer bestimmten Höhe. Die konkludente Zusage des Arbeitgebers sei so zu verstehen, dass eine Festsetzung nach billigem Ermessen erfolgen müsse.
Dieser konkludenten Vertragsänderung stehe auch nicht der Freiwilligkeitsvorbehalt entgegen. Die entsprechende Klausel sei intransparent, denn sie stelle die Rechtslage falsch dar.
Die Intransparenz der Klausel ergebe sich jedoch nicht daraus, dass sie zu Unrecht festlege, die Zahlung von Weihnachts- und Urlaubsgeld erfolge freiwillig. Tatsächlich begründe der Arbeitsvertrag noch keinen Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Der vorliegende Sachverhalt sei anders als der vom BAG im Urt. v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – entschiedene Sachverhalt zu bewerten. Im dortigen Fall hatte der Arbeitsvertrag ausdrücklich einen Anspruch auf Weihnachtsgeld vorgesehen, der im zweiten Schritt dann unter einen (unwirksamen) Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt wurde. Gleichwohl sei auch der vorliegende Freiwilligkeitsvorbehalt unwirksam. Er suggeriere, dass auch nachträglich getroffene Individualabreden von dem Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst seien. Diese gingen jedoch als Individualabrede einem Freiwilligkeitsvorbehalt vor.
In der Konsequenz bedeute dies, dass ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt nur dann wirksam sei, wenn er ausdrücklich darauf hinweise, dass spätere Individualabreden über vertraglich nicht geregelte Gegenstände nicht vom Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst würden.
Das Berufungsgericht ließ die Revision zum BAG zu, da seine Entscheidung von der Entscheidung einer anderen Kammer des LAG Baden-Württemberg abweiche und zudem möglicherweise auch eine Abweichung von der Rechtsprechung des BAG, Urt. v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – vorliege.
III. Der Praxistipp
Richtig an der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg ist, dass der vom Arbeitgeber vorformulierte pauschale Freiwilligkeitsvorbehalt unwirksam sein dürfte. Das BAG hat hierzu bereits in der viel diskutierten Entscheidung vom 14.9.2011 – 10 AZR 526/10 – festgehalten, dass pauschale Freiwilligkeitsvorbehalte, die auch Rechtsansprüche aus späteren Individualabreden ausschlössen, unwirksam seien. Auch wenn das BAG in der damaligen Entscheidung die Unwirksamkeit der Klausel mehrfach begründet hatte, bestand diesbezüglich meiner Auffassung nach kein Anlass, die Revision zuzulassen.
Erstaunlich ist allerdings, weshalb das LAG Baden-Württemberg davon ausging, die Wirksamkeit des Freiwilligkeitsvorbehalts sei entscheidungserheblich. Die erkennende Kammer hatte offengelassen, ob der Anspruch Urlaub- und Weihnachtsgeld auf einer betrieblichen Übung beruhe, da „jedenfalls“ eine konkludente Vertragsänderung der Parteien zustande gekommen sei. Eine solche würde jedoch eine Individualabrede im Sinne von § 305b BGB darstellen, die auch einem wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt vorgehen würde. Auf die Wirksamkeit des Freiwilligkeitsvorbehalts kam es daher nicht an.
Womit wir zum Kern dessen kommen, was die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg so problematisch macht, nämlich die leichtfertige Annahme einer konkludenten Individualabrede. Das LAG Baden-Württemberg folgert bereits aus einer in drei aufeinander folgenden Jahren gewährten Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld eine konkludente Zusage des Arbeitgebers. Eine solche „individuelle Übung“ unterscheidet sich von der betrieblichen Übung dann nur noch durch das Fehlen eines kollektiven Bezugs. Das Rechtskonstrukt der betrieblichen Übung wäre obsolet. Es hätte allenfalls noch Bedeutung für neueintretende Arbeitnehmer. Das Berufungsgericht dürfte aber im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG stehen. Auch das BAG hat in jüngeren Entscheidungen auf das kollektive Element verzichtet und bei jährlichen Sonderzahlungen über den Zeitraum von drei Jahren hinweg in unterschiedlicher Höhe eine verbindliche vertragliche Zusage auch dann angenommen, wenn nur ein einzelner Arbeitnehmer betroffen war (Urt. v. 13.5.2015 – 10 AZR 266/14).
Führt man diese Rechtsprechung konsequent zu Ende, würde auch eine wirksame doppelte Schriftformklausel im Arbeitsvertrag das Entstehen eines Anspruchs nicht verhindern können. Zwar hat das BAG noch im Urt. v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07 – angenommen, dass doppelte Schriftformklauseln gerechtfertigt seien, weil der Arbeitgeber ein anerkennenswertes Interesse daran habe, das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern. Wenn jedoch – was die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg nahelegt – in jeder betrieblichen Übung zugleich eine „individuelle Übung“, also eine gem. § 305b BGB vorrangige Individualabrede zu sehen ist, wäre diese Rechtsprechung obsolet. Die Entstehung eines Anspruchs für die Zukunft ließe sich dann nur durch einen individuellen Vorbehalt bei der Gewährung der entsprechenden Leistung verhindern.
Es bleibt zu hoffen, dass das BAG im Rahmen der unter dem Aktenzeichen 9 AZR 109/22 anhängigen Revision einige Klarstellungen zur Rechtsnatur der betrieblichen Übung und ihrem Verhältnis zur „individuellen Übung“ vornimmt.
Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln