Der Umstand, dass eine schriftliche Einladung zu einem Vorstellungsgespräch der sich bewerbenden schwerbehinderten oder gleichgestellten Person nicht entsprechend § 130 BGB zugegangen ist, kann die Kausalitätsvermutung nach § 22 AGG nur dann begründen, wenn der Arbeitgeber nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um einen ordnungsgemäßen und fristgerechten Zugang der Einladung zu bewirken.
[Amtlicher Leitsatz]
BAG, Urt. v. 1.7.2021 – 8 AZR 297/20
Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Stadt verpflichtet ist, an den Kläger gemäß § 15 Abs. 2 AGG eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen (Schwer-)Behinderung zu zahlen.
Der Kläger bewarb sich Ende Januar 2018 bei der Beklagten auf die von ihr ausgeschriebene Stelle eines Kämmerers/einer Kämmerin. In seiner Bewerbung, in der er auf seine Gleichstellung mit Schwerbehinderten hinwies, gab der Kläger statt seiner Wohnanschrift, eine Postfachadresse an.
Mit Schreiben vom 14.3.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe sich für einen anderen Bewerber entschieden und sandte ihm seine Bewerbungsunterlagen an die Postfachadresse zurück. Unter dem 2.5.2018 forderte der Kläger die Beklagte auf, an ihn eine Entschädigung wegen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot zu zahlen. Die Beklagte lehnte die Forderung des Klägers mit Schreiben vom 18.5.2018 ab. Mit seiner beim ArbG Schwerin eingereichten Klage verfolgte der Kläger seinen Entschädigungsanspruch weiter. In dem Verfahren verteidigte die Beklagte sich damit, sie haben den Kläger zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Bürgermeister habe den Kläger mit Schreiben vom 6.2.2018, unterzeichnet vom Bürgermeister, unter der von ihm angegebenen Postfachanschrift zu einem Vorstellungsgespräch am 21.2.2018 um 10:30 Uhr ins Rathaus, Zimmer des Bürgermeisters, eingeladen. Die Sekretärin des Bürgermeisters habe das Schreiben zur Post gegeben.
Das Arbeitsgericht Schwerin hat die Klage abgewiesen (Urt. v. 30.1.2019 – 4 Ca 1615/18). Das LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 7.1.2020 – 5 Sa 95/19) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision des Klägers blieb erfolglos.
Aufgrund seiner Nichtberücksichtigung für die ausgeschriebene Stelle sei der Kläger zwar im Sinne von § Abs. 1 AGG benachteiligt worden, jedoch habe er die Benachteiligung nicht wegen seiner Schwerbehinderung bzw. wegen seiner Gleichstellung erfahren.
§ 165 S. 3 SGB IX begründet für den öffentlichen Arbeitgeber die Pflicht, einen schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Menschen, der sich um einen Arbeitsplatz bewirbt oder hierfür von der Bundesagentur für Arbeit vorgeschlagen wird, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine Einladung ist nach § 165 S. 4 SGB IX nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Ausgehend von diesen gesetzlichen Vorgaben sei die Beklagte verpflichtet gewesen, den Kläger, der auf seine Gleichstellung mit Schwerbehinderten hingewiesen habe und zudem für die ausgeschriebene Stelle nicht offensichtlich ungeeignet war, einzuladen. Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die in § 165 S. 3 SGB IX geregelte Pflicht, einen schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründe regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung.
Trotz der dem Kläger nicht zugegangenen Einladung zum Vorstellungsgespräch fehle es in dem hier streitgegenständlichen Fall an der Vermutung i.S.v. § 22 AGG, dass er eine ungünstigere Behandlung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen erfahren habe. Denn die Beklagte habe alles ihr Mögliche und Zumutbare unternommen, um einen ordnungsgemäßen und fristgerechten Zugang des Einladungsschreibens beim Kläger zu bewirken.
Der Kläger habe nach der in § 22 AGG geregelten Darlegungs- und Beweislastverteilung beweisen müssen, dass die Beklagte nicht alles Mögliche und Zumutbare getan habe, um einen ordnungsgemäßen und fristgerechten Zugang einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu bewirken. Hierfür sei der Kläger beweisfällig geblieben. Zwar könne eine sich bewerbende Person regelmäßig keine Angaben dazu machen, ob der Arbeitgeber alles Notwendige unternommen habe, um einen ordnungsgemäßen und fristgerechten Zugang einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu bewirken. Dies führe zu einer sekundären Darlegungslast der Beklagten. Der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast sei die Beklagte jedoch nachgekommen. Sie habe substantiiert dazu vorgetragen, dass ein Einladungsschreiben an den Kläger verfasst wurde und wie mit diesem Schreiben zum Zwecke einer postalischen Übermittlung an den Kläger verfahren wurde. Die Beklagte habe zudem dargelegt, welche Personen zu den Einzelheiten der Abfassung des Einladungsschreibens und zu seiner Aufgabe zur Post nähere Angaben machen konnten. Diesen Vortrag habe der Kläger nicht entkräften können.
Die Entscheidung verdeutlicht nochmals anschaulich die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislastverteilung (vgl. BAG 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, AP BGB § 615 Nr. 158 m.w.N.) und stellt klar, dass eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast nach § 22 AGG erst dann erfolgt, wenn die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes besteht. Es bleibt mithin dabei, dass die Vermutung für eine Diskriminierung von dem oder der Kläger/in dargelegt und unter Beweis gestellt werden muss. Das entbindet Arbeitgeber freilich nicht, ihr Bewerbungsverfahren umfassend und detailliert zu dokumentieren.
Peter Hützen, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf, huetzen@michelspmks.de
Die Anwaltspraxis Wissen Newsletter & kostenlosen PDF Infobriefe halten Sie in allen wichtigen Kanzlei-Themen auf dem Laufenden!
Gebührenrecht - Frage des Monats: Gebührentaktik: Wie beende ich ein Verfahren am günstigsten?
Anwaltspraxis Wissen_ ReNoSmart 27. März 2023 14:59
Gebührenrecht - Frage des Monats: Welche Parteikosten kann ich für meinen Mandanten geltend machen?
Anwaltspraxis Wissen_ ReNoSmart 23. Januar 2023 15:25
beA: Ihre Fragen - unsere Antworten #11
Anwaltspraxis Wissen_ ReNoSmart 2. Dezember 2022 9:01
Rochusstraße 2-4 • 53123 Bonn
wissen@anwaltverlag.de
Fon +49 (0) 228 91911-0
Fax +49 (0) 228 91911-23
© 2023 Deutscher AnwaltVerlag • Institut der Anwaltschaft GmbH