Beitrag

LAG Hamm: Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung

Der Betriebsrat hat hinsichtlich der initiativen Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung ein Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG.

[Redaktioneller Leitsatz]

LAG Hamm, Beschl. v. 27.7.2021 – 7 TaBV 79/20

I. Der Fall

Arbeitgeber und Betriebsrat streiten vor dem Hintergrund eines ausgesetzten Einigungsstellenverfahrens um die Frage, ob der Betriebsrat ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung hat.

Die beiden Arbeitgeberinnen hatten mit dem Betriebsrat in der Vergangenheit zunächst eine Betriebsvereinbarung über den Einsatz eines digitalen Dienstplaners abgeschlossen. In der Folgezeit verhandelten sie über die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems. Die Arbeitgeberinnen schafften hierfür bereits die Hardware in Form von Lesegeräten an, verzichteten dann aber auf die endgültige Einführung des Zeiterfassungssystems. Der Betriebsrat ließ daraufhin gerichtlich eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ einsetzen (LAG Hamm, Beschl. v. 4.6.2019 – 7 TaBV 93/18). Die Einigungsstelle trat zusammen, fasste sodann aber den Beschluss, die Einigungsstelle auszusetzen und in einem gesonderten arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zu prüfen, ob sie überhaupt zuständig ist.

II. Die Entscheidung

Das LAG gab dem Betriebsrat Recht und stellte fest, dass ihm ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zustehe.

In der Begründung befasst sich das LAG Hamm ausführlich mit der abweichenden Rechtsprechung des BAG vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88) sowie der teleologischen Auslegung des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Es kommt zu dem Ergebnis, dass sich weder dem Wortlaut noch dem Willen des Gesetzgebers entnehmen lasse, dass § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG kein Initiativrecht des Betriebsrats enthalte.

Ausgehend davon, dass ein Initiativrecht des Betriebsrats bestehe, gibt das LAG Hamm der Einigungsstelle sodann noch ein paar Entscheidungshilfen für die Ermessenausübung mit: Einerseits sei es irrelevant, dass der Arbeitgeber bereits Hardware angeschafft habe, die er nun nicht einsetzen wolle. Andererseits habe die Einigungsstelle die Kosten der Inbetriebnahme des Zeiterfassungssystems und der Wartung sowie die Kosten der Beauftragung eines externen Dienstleisters zu berücksichtigen.

III. Der Praxistipp

Zunächst einmal kann man der Einigungsstelle und dem LAG Hamm nur dankbar sein, dass sie den Rechtsweg zum BAG zu dieser für die Praxis eminent wichtigen Rechtsfrage eröffnet haben. Gegen den Beschluss zur Einsetzung der Einigungsstelle selbst hätte der Arbeitgeber nämlich kein Rechtsmittel mehr einlegen können, § 100 Abs. 2 S. 4 ArbGG.

Zur Einordnung der Entscheidung muss man ein paar Jahre zurückblicken: Bekanntlich hat der EuGH am 14.5.2019 (C-55-18) entschieden, dass es den Mitgliedstaaten obliege, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Diese Entscheidung wurde durch den deutschen Gesetzgeber bislang nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Arbeitszeiterfassung findet ihre gesetzliche Grenze weiterhin allein in der Pflicht des Arbeitgebers, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit zu erfassen, § 16 Abs. 2 ArbZG, sowie in der Erfassung der Arbeitszeit im Mindestlohnsektor. In der Folgezeit haben mehrere Gerichte entschieden, dass die Entscheidung des EuGH auch keine Auswirkungen auf die prozessuale Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess habe (zuletzt LAG Niedersachsen, Urt. v. 6.5.2021 – 5 Sa 1292/20 – Revision zugelassen – und LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 19.2.2021 – 8 Sa 169/20). Das BAG wird die Reichweite der Entscheidung des EuGH und damit deren praktische Auswirkungen auf der individualvertraglichen Ebene voraussichtlich noch vor einem Tätigwerden des Gesetzgebers klären.

Auf der kollektivrechtlichen Ebene war bisher umstritten, ob der Betriebsrat seinerseits die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung initiativ vom Arbeitgeber verlangen kann. Mit einer solchen elektronischen Erfassung der Arbeitszeit würde diese sowohl für den Arbeitgeber und die Belegschaft als auch für den Betriebsrat sichtbar. Betriebsräte haben daher in der Vergangenheit damit argumentiert, dass sie nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG darüber zu wachen haben, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze und Verordnungen durchgeführt werden – so auch die Bestimmungen des ArbZG. Hierfür müssten sie auch die Arbeitszeit der Belegschaft kennen. In jüngerer Vergangenheit haben Betriebsräte zunehmend argumentiert, dass Arbeitszeit auch Gegenstand einer (psychischen) Gefährdungsbeurteilung und damit Gegenstand des nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Arbeitsschutzes ist. Das BAG ist dem Betriebsrat an dieser Stelle bereits in der Vergangenheit zur Seite gesprungen und hat entschieden, dass ein solches Auskunftsrecht des Betriebsrats auch dann besteht, wenn der Arbeitgeber wie bei der Vertrauensarbeitszeit darauf verzichtet, von der tatsächlichen Arbeitszeit seiner Mitarbeiter Kenntnis zu nehmen (BAG, Beschl. v. 6.5.2003 – 1 ABR 13/02). Allerdings steht es ihm nach dieser Entscheidung des BAG frei, wie er seiner Informationspflicht gegenüber dem Betriebsrat nachkommt.

Nicht jeder Arbeitgeber will indes eine elektronische Arbeitszeiterfassung im Unternehmen einführen. Diese ist nicht nur mit finanziellem Aufwand, sondern zugleich mit datenschutzrechtlichen Folgewirkungen verbunden. Bislang konnten Arbeitgeber Forderungen von Betriebsräten nach Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung unter Verweis auf die Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 28.11.1989 – 1 ABR 97/88) und des LAG Niedersachsen (Beschl. v. 22.10.2013 – 1 TaBV 53/13) zurückweisen.

Dies könnte sich mit der Entscheidung des LAG Hamm nun ändern. Die Rechtsbeschwerde beim BAG ist eingelegt, so dass mit einer Entscheidung im kommenden Jahr zu rechnen ist. Würde das BAG ein Initiativrecht des Betriebsrats im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bejahen, hätte dies grundlegende Auswirkungen auf die Reichweite der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der Einführung von technischen Einrichtungen – und zwar weit über die Arbeitszeiterfassung hinaus. Im Ergebnis halte ich die Entscheidung für falsch. Denn das „Ob“ der Einführung technischer Einrichtungen muss dem Arbeitgeber vorbehalten bleiben. Über das „Wie“ hat der Betriebsrat bereits jetzt absolut unzweifelhaft mitzubestimmen. Ein Initiativrecht bezüglich des „Ob“ würde das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats hingegen unzulässig erweitern und einen Eingriff in mitbestimmungsfreie unternehmerische Entscheidungen darstellen. Zudem ist das bisherige Verständnis des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG als Abwehrrecht des Betriebsrats vor einer ausufernden Leistungs- und Verhaltenskontrolle konzipiert. Ob das BAG hier zu einer Neukonzeptionierung des Initiativrechts des Betriebsrats im Spannungsverhältnis zwischen seinen Schutzrechten zugunsten der Belegschaft im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitszeit und des Arbeitsschutzes einerseits und der unternehmerischen Freiheit und datenschutzrechtlichen Erwägungen andererseits kommt, darf mit Spannung erwartet werden.

Zuletzt noch ein kurzer Überblick über die Folgen einer durch eine elektronische Erfassung sichtbar gewordenen Arbeitszeit. Dies sind zwar allesamt Punkte, die Arbeitgeber ohnehin bereits jetzt zu berücksichtigen haben. Über ein Initiativrecht des Betriebsrats würden sie aber eine neue Dynamik entfalten.

– Compliance

Arbeitgeber haben die die Bestimmungen des ArbZG einzuhalten, u.a. zu Ruhezeiten, Höchstarbeitszeit und Pausenzeiten – und das selbstverständlich auch bei ortsungebundenen Arbeitszeitmodellen. Verstöße hiergegen sind bußgeldbewehrt und können sogar zu Einziehungsmaßnahmen führen, § 29a OWiG. Sichtbar gewordene Arbeitszeit macht daher auch Verstöße gegen das ArbZG transparent.

– Vergütung

Visibel gewordene Arbeitszeit „verpufft“ nicht einfach, ist aber auch nicht zwangsläufig zu vergüten. Ob sie zu vergüten oder in Freizeit auszugleichen ist, richtet sich nach den arbeits- und tarifvertraglichen Regelungen, die beispielsweise auch eine (teilweise) Abgeltung von Mehrarbeit vorsehen können. Der Arbeitsvertragsgestaltung kommt daher zukünftig noch mehr Bedeutung zu, so dass die individual- und kollektivrechtlichen Ebenen zu harmonisieren sind.

– Performance

Geleistete Arbeit wird sichtbar – und damit auch die erbrachte Leistung der Beschäftigten. Bekanntlich ist auch „schlechte Arbeitszeit“ (Low Performance) vollwertige und zu vergütende Arbeitszeit, so dass der Inhalt und die Qualität jeder Stunde Arbeitszeit an Bedeutung gewinnen. Dieser Konsequenz müssen sich auch Betriebsräte bewusst werden und dürfen ihre Augen vor den Folgen nicht verschließen.

– Arbeitszeitgestaltung

Die im Betrieb praktizierten Arbeitszeitmodelle stehen auf dem Prüfstand – und geben dem Betriebsrat weitergehende Rechte. Gerade „Vertrauensarbeitszeitmodelle“ könnten zukünftig durch qualifizierte Gleitzeitmodelle mit einem Arbeitszeitkonto abgelöst werden. Generell werden Arbeitszeitkonten mit saldierbaren Arbeitszeitguthaben an Bedeutung gewinnen.

– Workforce Management

Visualisierte Arbeitszeit macht den Personalbedarf sichtbar: Wie viele Beschäftigte benötige ich als Arbeitgeber für wie viel Arbeit? Sind diese Beschäftigten richtig eingesetzt? Auch hier schließen sich Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats an.

Letztlich fördert eine elektronische Arbeitszeiterfassung die Arbeitszeitehrlichkeit. Denn Arbeitgeber werden sich den vorgenannten Herausforderungen stellen und der Belegschaft Antworten liefern müssen – im wohlverstandenen Eigeninteresse auch aus Sicht des Employer Branding und zukunftsweisender Organisationsmodelle.

Dr. Sebastian Maiß, Fachanwalt für Arbeitsrecht, michels.pmks, Düsseldorf

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail