1. Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung steht, stellt für das Erfordernis der Beiordnung eines Verteidigers lediglich ein Indiz dar, das für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung nicht zu begründen vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte hinzukommen.
2. Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht allein aus dem Umstand, dass die Justizvollzugsanstalt im Rahmen des Verfahrens nach § 57 Abs. 1 StGB nacheinander mehrere divergierende Prognoseeinschätzungen abgegeben hat. (Leitsätze des Senats)
OLG Celle,Beschl.v.3.12.2019–2 Ws 355/19
I. Sachverhalt
Der Verurteilte, der mehrere Freiheitsstrafen verbüßt (Strafende 24.2.2021), begehrte seine vorzeitige Entlassung zum 2/3-Termin und beantragte zugleich, ihm für das Verfahren gem. § 57 Abs. 1 StGB seine Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin beizuordnen.
Die JVA befürwortete die bedingte Entlassung zunächst. Kurz darauf versuchte der Verurteilte jedoch, eine Urinprobe zu manipulieren. Er wurde deshalb aus dem offenen in den geschlossenen Vollzug verlegt. Zudem erklärte die JVA, einer vorzeitigen Entlassung könne nicht mehr zugestimmt werden.
Gegen die Herausnahme aus dem offenen Vollzug begehrte der Verurteilte mit einem von ihm selbst verfassten Schreiben gerichtliche Entscheidung.
Hinsichtlich der vorzeitigen Entlassung erklärte die Anstalt im weiteren Verlauf des Verfahrens in einer weiteren Stellungnahme, aus ihrer Sicht komme eine Reststrafenaussetzung nur in Betracht, wenn der Verurteilte nach seiner Freilassung umgehend eine ambulante Behandlung in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie fortführe.
Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer lehnte den Beiordnungsantrag ab. Es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Verurteilte in seiner Verteidigungsfähigkeit beschränkt sein könnte.
Hiergegen wendete sich der Verurteilte mit dem Rechtsmittel der Beschwerde. Er sei unfähig, seine Verteidigung selbst zu führen. Überdies sei eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, die u.a. den Aufgabenkreis Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse.
Das OLG Celle verwarf die Beschwerde als unbegründet.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des Senats liegen die Voraussetzungen für die Beiordnung einer Pflichtverteidigerin entsprechend § 140 Abs. 2 StPO nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, dass der Verurteilte zur Selbstverteidigung unfähig sei.
Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung steht, stelle lediglich ein Indiz für eine Verteidigungsunfähigkeit dar, welches für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht zu begründen vermöge.
Vielmehr sei erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte wie etwa ein fortgeschrittenes Lebensalter, eine erhebliche psychiatrische Erkrankung, eine Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt oder aber die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt hinzukommen. Solche Umstände lägen nicht vor.
Zudem werde die Annahme einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten dadurch gestützt, dass er in einem von ihm selbst verfassten Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen seine Herausnahme aus dem offenen Vollzug den Sachverhalt schlüssig darstellen und mit Daten belegen konnte.
Auch ergebe sich, so das OLG weiter, die Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers nicht aus dem Umstand, dass die Vollzugsanstalt drei divergierende Stellungnahmen abgegeben hat. Die Abweichungen beruhten auf dem Vorwurf, dass der Verurteilte versuchte, eine Urinprobe zu manipulieren. Dieser Vorwurf sei im Vollzugsalltag keineswegs unüblich und stelle daher keine tatsächliche oder rechtliche Komplikation dar, der nur durch die Beiordnung einer Pflichtverteidigerin begegnet werden könnte.
Abschließend weist der Senat noch darauf hin, dass die Dauer der zu vollstreckenden Strafe sowie der Strafrest außer Betracht zu bleiben hätten.
III. Bedeutung für die Praxis
Die vom Antrag der GenStA, die sich für eine Beiordnung ausgesprochen hatte, abweichende Entscheidung mutet auf den ersten Blick restriktiv an, entspricht jedoch der gängigen Rechtsprechung. Hiernach ist im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich.
Von diesem Maßstab ausgehend hat das OLG dem Umstand, dass der Verurteilte unter gesetzlicher Betreuung steht, zurecht nur indizielle Bedeutung beigemessen, zumal auch der von ihm selbst verfasste Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Herausnahme aus dem offenen Vollzug dafür spricht, dass der Verurteilte jedenfalls in einem eher einfach gelagerten Verfahren seine Interessen selbst wahrnehmen kann.
Ebenfalls zuzustimmen ist dem Senat, wenn er die unterschiedlichen Äußerungen der JVA nicht als Grund für eine Beiordnung anerkennt. Die inhaltlichen Abweichungen beruhten nicht etwa auf einer schwierigen Rechtslage oder auf einer fehlerhaften Sachbehandlung durch die zuständigen Behörden, sondern allein darauf, dass der Verurteilte versucht hat, eine Urinprobe zu manipulieren. Mithin lag den unterschiedlichen Stellungnahmen ein einfach gelagerter Sachverhalt zu Grunde.
Richter am LandgerichtThomas Hillenbrand, Stuttgart