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Was sind Legal Tech und Künstliche Intelligenz?

Immer wieder gibt es Diskussionen darüber, dass Legal Tech und Künstliche Intelligenz (KI) unseren Arbeitsalltag massiv verändern werden. Aber was bedeuten diese Begriffe überhaupt? Feststehende Definitionen, an denen wir Juristen uns so gerne orientieren, gibt es für beide Begriffe nicht.

 

Legal Tech

In Bezug auf Legal Tech wird vielfach Prof. OLIVER R. GOODENOUGH zitiert, der bereits 2015 eine Einteilung in Legal Tech 1.0, 2.0 und 3.0 vornahm:

  • Er beschreibt Software, die Anwender innerhalb des aktuellen Rechtssystems unterstützt und befähigt, als Legal Tech 1.0.
  • Unter Legal Tech 2.0 versteht man Rechtsdienstleistungen, die Handlungen an Stelle des Menschen ausführen.
  • Legal Tech 3.0 sind Lösungen, deren Nutzung zu einem radikalen Redesign oder einer Ablösung des aktuellen Rechtssystems führt (GOODENOUGH, Legal Technology 3.0, Huffpost, 2.4.2015 geänd. 6.4.2015, www.huffpost.com/entry/legal-technology-30_b_6603658 [16.2.2023]).

 

Bei einer Zugrundelegung dieser Defnition wird vielfach außer Acht gelassen, was das Ziel von GOODENOUGHS Veröffentlichung war: Er setzte sich mit dem disruptiven Potenzial der verschiedenen Anwendungen auseinander.

 

Hinweis:

Das Wort Disruption wird immer wieder im Zusammenhang mit Legal Tech verwendet. Disruptive Technologien ersetzen bereits bestehende, bislang erfolgreiche Technologien, Produkte oder Dienstleistungen völlig oder verdrängen sie vollständig vom Markt.

Die eingangs zitierten Meldungen weckten bei einigen Lesern diffuse Ängste vor dem disruptiven Potenzial von Künstlicher Intelligenz (KI). Immer wieder erscheinen Veröffentlichungen, in denen die Ära der Robo-Anwälte angekündigt wird.

Tatsächlich ist es so, dass die kurzfristigen Auswirkungen einer Technologie häufig überschätzt, ihre langfristigen Auswirkungen jedoch unterschätzt werden. Dieses Phänomen wird als „Amaras Gesetz“ bezeichnet. Auch in Bezug auf den Einsatz von Legal Tech lässt sich diese Tendenz beobachten.

 

In der Beitragsreihe „Ändern Legal-Tech-Anwendungen die Arbeit der Anwaltspraxis?“ wird unter Legal Tech der Technologieeinsatz mit juristischem Bezug zur
Unterstützung einer genuin juristischen Tätigkeit verstanden. Es ist nicht notwendig, dass juristische Kenntnisse im engeren Sinne abgebildet werden (so BIALLAß in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 1, 2. Aufl. 2022, Kapitel 8 Rn 14, ab Rn 2 findet sich ein Überblick über die gängigen Definitionen).

 

Künstliche Intelligenz (KI)

Künstliche Intelligenz (KI) beschreibt ein Forschungsgebiet innerhalb der Informatik (BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 320). Dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union liegt ein sehr weiter KI-Begriff zugrunde.

Gemäß Art. 3 Nr. 1 KI-VO-E handelt es sich bei einem „System der Künstlichen Intelligenz“ (KI-System) um eine Software, die mit einer oder mehreren der in Anhang I aufgeführten Techniken und Konzepte entwickelt worden ist und im Hinblick auf eine Reihe von Zielen, die durch Menschen festgelegt werden, Ergebnisse wie Inhalte, Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen hervorbringen kann, die das Umfeld beeinflussen, mit dem sie interagieren. In Anhang I des KI-VO-E werden die maßgeblichen Techniken und Konzepte aufgelistet.

 

Maschinelles Lernen

Unter Buchstabe a) des Anhangs I zum Verordnungsentwurf werden „Konzepte des maschinellen Lernens, mit beaufsichtigtem, unbeaufsichtigtem und bestärkendem Lernen unter Verwendung einer breiten Palette von Methoden, einschließlich des tiefen Lernens (Deep Learning)“ genannt. Dass maschinelles Lernen oder Machine Learning unter den KI-Begriff fällt, ist wohl unumstritten.

 

Hinweis:

Beim maschinellen Lernen wird das System durch das Training mit großen Datenmengen in die Lage versetzt, das „Gelernte“ auf neue Eingabedaten anzuwenden. Beim überwachten Lernen (supervised learning) wird durch „Annotation“ bzw. „Labeling“ der Trainingsdaten das zu lernende Ergebnis vorgegeben.

Dies ist zeitaufwendig und macht den Einsatz von Personen notwendig, die sich auf dem Gebiet, aus dem die Daten stammen, auskennen. Beim unüberwachten Lernen (unsupervised learning) erfolgt der Lernprozess ohne Hilfestellung. Das System identifiziert selbstständig Gemeinsamkeiten innerhalb der Trainingsdaten und zieht aufgrund ihrer An-/Abwesenheit Schlussfolgerungen.

Das bestärkende Lernen (reinforcement learning) funktioniert, wie es die Herkunft seines Namens aus der Verhaltenspsychologie nahelegt. Das System erhält von den Entwicklern nach jedem Trainingsdurchlauf positives oder negatives Feedback und passt seine Ergebnisse an, um mehr positives Feedback zu bekommen.

Der Begriff Deep-Learning beschreibt das Optimieren künstlicher neuronaler Netze (KNN) mittels großer Datenmengen. KNN sind dem menschlichen Gehirn nachgebildet. Sie bestehen aus künstlichen Neuronen, die in „Schichten“ angeordnet sind. Ein Deep-Learning-System besteht aus drei Komponenten, einer „Eingabeschicht“ („input layer“), einer „Ausgabeschicht“ („output layer“) und dazwischen liegenden unsichtbaren Schichten (verborgenen Schichten, innere Schichten oder „hidden layers“), in denen die eigentliche Rechenarbeit stattfindet. Die Verbindungen zwischen den Neuronen werden mit unterschiedlichen Gewichten versehen, die das Verhalten des Netzwerks bei unterschiedlichen Eingabewerten steuern.

 

Symbolische Methoden

Unter Buchstabe b) des Anhangs I zum Verordnungsentwurf werden „Logik- und wissensgestützte Konzepte, einschließlich Wissensrepräsentation, induktiver (logischer) Programmierung, Wissensgrundlagen, Inferenz- und Deduktionsmaschinen und (symbolische) Schlussfolgerungs- und Expertensysteme“ aufgezählt.

 

Hinweis:

Derartige symbolische Methoden waren der Gegenstand früher KI-Forschung. Aktuell ist umstritten, ob sie immer noch unter den Begriff KI fallen. Forscher auf dem Gebiet der Rechtsinformatik befassten sich schon in den 1980er Jahren mit juristischen Expertensystemen. In ihnen ist das Wissen expliziert hinterlegt. Sie kommen infolgedessen bei komplexen Sachverhalten an ihre Grenzen, bei denen es nicht möglich ist, das für ihre Bearbeitung benötigte Wissen von Hand in formale Regeln zu überführen und aktuell zu halten (BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 335; Grundlagenpapier „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“ der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs, S. 1, [26.2.2023]).

Die Erstellung eines regelbasierten Expertensystems, das das komplette deutsche Zivilrecht abbildet, dürfte nach Ansicht der Autorin unmöglich oder jedenfalls nicht finanzierbar sein.

 

Statistische und auf dem Bayes-Theorem beruhende Ansätze

Aus Buchstabe c) des Anhangs I zum Verordnungsentwurf ergibt sich, dass unter den KI-Begriff der Verordnung auch „statistische Ansätze und Bayessche Schätz-, Such- und Optimierungsmethoden“ fallen sollen.

 

Hinweis:

Es ist nicht eindeutig, wo die Grenze zwischen statistischen Ansätzen und Verfahren des maschinellen Lernens ist.

Der Versuch der Grenzziehung hat das Ziel, zwischen den Forschungsgebieten der Künstlichen Intelligenz und der Statistik zu unterscheiden. Der Verordnungsentwurf hat sich auch an dieser Stelle für einen weiten Anwendungsbereich entschieden.

 

Weiter KI-Begriff

Der Verordnungsentwurf hat wegen seines weiten KI-Begriffs massive Kritik erfahren. Nahezu jedes Computerprogramm könne unter in dem Verordnungsentwurf definierten Begriff des „KI-Systems“ subsumiert werden, sodass von einer „Softwareverordnung“ gesprochen werden könne (BORNHARD/ MERKLE, RDi 2021, 276, 277). Es bleibt somit abzuwarten, ob er in dieser Form tatsächlich Gesetz wird.

Teilweise wird empfohlen, um Streitigkeiten über den Umfang des KI-Begriffs aus dem Weg zu gehen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die inhaltlichen Fragen richten zu können, über „algorithmische Systeme“ zu sprechen (so beispielsweise Gutachten der Datenethikkommission der Bundesregierung, S. 34; Grundlagenpapier „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“ der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs, S. 3).

 


Inhalt der Reihe:

  • Was sind Legal Tech und Künstliche Intelligenz?
  • Einsatzfälle von Legal Tech in Kanzlei und Unternehmenspraxis
  • Legal Tech: In Kürze wahrscheinliche Einsatzgebiete
  • Künftige Entwicklungen von Legal-Tech-Anwendungen
  • Legal-Tech-Anwendungen: Prognose und Fazit

 


 

Zuerst erschienen in: ZAP Nr.  7 | 13.4.2023; Ändern Legal-Tech-Anwendungen die Arbeit der Anwaltspraxis? (S. 351 – 360)

 

 

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