Wer sich Informationen über das amerikanische Justizsystem durch Justizthriller oder amerikanische Anwaltsserien wie etwa „The Good Wife“ vermitteln lässt, wird nicht unbedingt zum Fan dieses Rechtssystems und wird schon gar nicht dafür plädieren wollen, es für uns zu übernehmen.
Es gibt allerdings eine entscheidende Ausnahme:
Der Mitschnitt bzw. die wortwörtliche Aufnahme der gesamten Hauptverhandlung. Dieses System in Amerika ermöglicht es sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung gegebenenfalls auch nach mehreren Verhandlungstagen Zeugenaussagen aufrufen zu lassen, diese zu hinterfragen, weiteren neueren Aussagen gegenüberzustellen und insbesondere über eine Dokumentation zu verfügen, die eine Überprüfung der Tatsachenfeststellungen des späteren Urteils zulässt.
Insbesondere die Strafjustiz in Deutschland hat sich in der Vergangenheit immer wieder vehement dagegen gewehrt, den Verlauf der Hauptverhandlung wortgetreu festhalten zu lassen. Dies wird so manches Mal dazu geführt haben – in einem Einzelfall habe ich dies selbst erleben müssen –, dass in dem Urteil Tatsachenfeststellungen vorzufinden waren, die den Schuldspruch zwar deckten und eine problemlose Subsumtion unter den entsprechenden Tatbestand zuließen, die aber letztlich den Gang der Hauptverhandlung zumindest nicht in Gänze zutreffend wiedergaben. Dies wird in solchen Fällen die verhängnisvolle Wirkung gehabt haben, dass einer eigentlich erfolgversprechenden Revision der Erfolg schlicht und einfach nicht zugebilligt werden konnte, eben weil man an den Tatsachenfeststellungen und angeblichen Äußerungen des einen oder anderen Zeugen oder Angeklagten nicht rütteln konnte.
Einer meiner früheren Ausbilder, von der fachlichen Kompetenz her ein überragender Jurist, erläuterte uns staunenden Referendaren, man könne buchstäblich jedes Strafurteil revisionssicher machen, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Urteils passgenau auf die entsprechenden Straftatbestände zuträfen. Honi soit qui mal y pense!
Man täte der deutschen Strafjustiz nun sicherlich unrecht, wenn man Einzelfälle verallgemeinern wollte und Strafrichter unter Generalverdacht stellte
Auch Einzelfälle können aber zu Entscheidungen führen, die eben gerade im Strafrecht gravierende Folgen nach sich ziehen. Und so ist es sicherlich nicht unbillig, wenn man die größtmögliche Rechtssicherheit für angemessen hält und den Vorstoß – den überfälligen Vorstoß – des jetzigen Bundesjustizministers ausdrücklich begrüßt, auf eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung hinzuwirken. Wenn dies umgesetzt wird, so wird man wahrlich von einem Kulturwandel sprechen können, der den deutschen Strafgerichten dann bevorsteht.
Erwartungsgemäß ist der Vorstoß des Bundesjustizministeriums nicht unumstritten und wird insbesondere von der Richterschaft, aber auch von anderen Beteiligten kritisiert. So wird befürchtet, eine Videoaufzeichnung lade zu einer „laienhaften Überinterpretation körpersprachlicher Elemente“ ein, anders als ein reiner Audiomitschnitt. Will man diese Bedenken aufgreifen, so wäre ein reiner Audiomitschnitt jedenfalls ein begrüßenswerter Anfang, obgleich ich tatsächlich nicht glaube, dass die Bedenken überzeugend sind. Ferner wird geäußert, der BGH dürfe nicht zum „Filmclub“ und damit im Grunde zu einer weiteren Tatsacheninstanz werden.
Zu Recht und mit guter Begründung ist der Kollege Prof. Dr. Volker Römermann solchen Einwänden entgegengetreten. So kann die Körpersprache eines Zeugen durchaus relevant sein für die Interpretation des Gesagten und seine Glaubwürdigkeit – so Römermann zu Recht –, und Videos oder auch nur Audio-Mitschnitte würden vom BGH ja nur dann nachvollzogen, wenn zuvor die Revision konkrete Fehlinterpretationen vorträgt und in den Raum stellen kann.
Richtig betrachtet, ist die gewünschte Änderung eine Win-Win-Situation, also nicht nur ein Vorteil für den Angeklagten und die Verteidigung, sondern auch für die anderen Prozessbeteiligten, wie Staatsanwaltschaft und Gericht, was diese nach einer gewissen Eingewöhnungszeit auch selbst erkennen werden. Ein Kulturwandel im Ablauf der Hauptverhandlung wäre also ein echter Gewinn für den Rechtsstaat und eine Gewähr für Strafurteile, die auf sicheren Fakten und Tatsachenfeststellungen beruhen und nicht nur auf dem Gedächtnis oder den Notizen der beteiligten Richter.
Die bislang kalkulierten 20 Mio. € für die Audio-Videoausstattung sämtlicher Gerichte in Strafsachen, die einige allerdings bereits für zu niedrig kalkuliert halten, sollten uns unser Rechtsstaat wert sein, zumal derzeit für ganz andere Dinge ja eher in Milliarden gerechnet wird.
Die Kolumne ist zuerst erschienen in: ZAP Nr. 7 | 13.4.2023